Der Hexer und die Henkerstochter
der Boden nur schemenhaft zwischen den Tannen und Buchen zu erkennen war.
»Jetzt stell dich nicht so an«, fluchte der Henker leise. »Oder soll ich Magdalena erzählen, dass du leider als Angsthase am Galgen geendet bist?«
»Schon … schon gut.«
Simon drehte sich mit dem Bauch zum Felsen und ließ sich dann langsam in die Tiefe hinabgleiten. Seine Füße suchten nach Halt. Endlich hatte er einen Spalt in der Wand gefunden, links ragte ein kleines Tännchen aus dem Abhang heraus. Er griff danach und angelte mit seinen Füßen nach einem weiteren Felsvorsprung.
»Wenn du so weitermachst, dann bist du erst zu Sankt Martin unten«, sagte Kuisl, der ihn von oben aus beobachtete. »Nun mach schon. Schließlich muss ich auch noch hinterher.«
»Ihr könnt gern als Erster gehen, werter Schwiegervater«, zischte der Medicus.
»Damit du mir dann auf den Kopf fällst? Dank recht schön, aber da halt ich lieber solang hier oben die Stellung.«
Simon atmete tief durch, dann machte er sich erneut daran, die Felswand hinabzusteigen. Mittlerweile bekam er etwas Übung. Tatsächlich war es nicht so schwer, wie er zunächst befürchtet hatte. Es gab genügend Vorsprünge, Büsche und Bäume, die ihm Halt gaben.
Als er etwa die Hälfte des Abhangs hinabgeklettert war, legte Simon eine kleine Pause ein. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und blickte nach oben, wo Jakob Kuisl jetzt nur noch als dunkle kleine Gestalt irgendwo zwischen den Felsen auszumachen war.
Immer noch außer Atem griff Simon nach einem weite ren Tännchen, als plötzlich ein hässliches Knacksen ertönte.
Der Baum über ihm gab nach.
Ein weiteres Knirschen folgte, dann rutschte Simon von dem rettenden Vorsprung ab. Erde bröckelte, Kiesel und kleine Felsstücke fielen polternd nach unten. Über sich sah er das ärgerliche Gesicht seines Schwiegervaters.
»Pass doch auf, du Rindviech!«, zischte Jakob Kuisl. Erst dann schien der Henker zu begreifen, in was für einer verhängnisvollen Lage sich Simon befand. Der Medicus hing nur noch an dem kleinen Tännchen, dessen Wurzelwerk nun Stück für Stück aus der Felswand rutschte. Der Boden war noch über zehn Schritt entfernt.
»Wart, ich werde …«, begann Jakob Kuisl.
Doch in diesem Augenblick riss auch das letzte Stück Wurzel, und Simon fiel schreiend und wild um sich greifend in die Tiefe.
Der Aufprall war weniger schmerzlich, als er befürchtet hatte. Der Waldboden war bedeckt mit altem Laub, außerdem lief der Hang in einer Senke aus, so dass der Sturz nicht allzu abrupt war. Er überschlug sich ein paarmal, rollte wie eine nasse Lawine weiter ins Tal und blieb schließlich an einer breiten Buche liegen.
Vorsichtig klopfte Simon seine Arme und Beine ab. Nichts schien gebrochen, nur der Rock war an ein paar Stellen eingerissen, außerdem hatte er im Gesicht und am Rücken einige Schürfwunden.
Gerade wollte er nach oben rufen, dass alles in Ordnung sei, als plötzlich Schreie aus der Wand erklangen. Der Medicus kniff die Augen zusammen und sah weit über sich, dort wo Jakob Kuisl auf dem Felsvorsprung stehen musste, schattengleiche Bewegungen. Weiteres Rufen war zu hören, Simon glaubte, das Klirren von Waffen zu vernehmen. Offenbar fand dort oben ein Kampf statt.
»Kuisl! Mein Gott, Kuisl!«, schrie er. »Was ist passiert?«
Im nächsten Moment fiel ihm ein, wie dumm diese Frage war. Vermutlich hatten die Jäger ihr gemeinsames Versteck gefunden und lieferten sich nun ein Gefecht mit dem Henker. Und er stand hier unten und konnte nichts tun!
Eine ganze Weile verharrte er ratlos am Rand der Felswand, als ein weiterer Aufschrei ertönte. Kurz darauf fiel ein trudelnder Körper neben ihm zu Boden. Simon zuckte zusammen. Vor ihm lag einer der Andechser Jäger, der Kopf war durch den Sturz merkwürdig verdreht, ein Armbrustbolzen steckte in seiner Schulter. Er erzitterte noch einmal kurz, dann bekamen seine Augen jenen Glanz, den der Medicus schon bei vielen Sterbenden gesehen hatte.
Na wunderbar! , dachte Simon. Nun werden wir nicht nur als Scharlatane und falsche Mönche, sondern auch als Mörder gesucht. Und dabei wollte ich doch nur auf eine Wallfahrt gehen!
»Verflucht, Simon, lauf! Renn zur Magdalena!«
Jakob Kuisls dröhnende Stimme drang bis hinunter in die Schlucht und riss ihn aus seinen Gedanken. Noch einmal sah Simon nach oben, doch die Schemen waren verschwunden. Vermutlich hatte sich der Kampf auf den Pfad verlagert. Gut möglich, dass einige der Jäger bereits
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