Der Hexer und die Henkerstochter
konnte sehen, dass seine Augen feucht waren.
»Ich soll von uns beiden erzählen, Elisabeth?«, fuhr Virgilius fort. »Wirklich? Nun gut, wie du meinst …« Er stockte kurz, bevor er schließlich zu sprechen begann.
»Ich lernte meine geliebte Morgenröte kennen, als ich ein junger Student in Salzburg war, an der Benediktineruniversität, wo auch mein älterer Bruder Maurus studierte. Er hat mich immer gescholten, weil ich das Studieren vernachlässigt habe und nur mit Elisabeth zusammen war. Der dumme Kerl! Er hat bis heute nicht verstanden, was sie mir bedeutet. Sie war, nein, sie ist … mein Leben.«
Virgilius machte eine lange Pause und starrte mit leerem Blick auf die toten Schädel, die Edelsteine, das Astrolabium und die Spieluhren in den Regalen. Seine Stimme klang so brüchig, als hätte ein heißer Wind seine Kehle verbrannt. Erst nach einer Weile schien der Uhrmacher wie aus einem Traum zu erwachen. Wieder beugte er sich hinab zu der Puppe.
»Was sagst du?«, tat er erstaunt. »Ich soll diesem netten aufgeschlossenen Bader wirklich unser kleines Geheimnis erzählen? Aber … du weißt doch, wie weh mir das tut!« Er nickte entschlossen. »Nun gut, wenn du meinst. Ich habe tatsächlich schon viel zu lange geschwiegen. Es macht die Seele taub, wenn man zu lange schweigt, nicht wahr?«
Virgilius’ Blick wurde mit einem Mal so düster, als würden dunkle Wolken hinter seinen Augen hinwegziehen.
»Elisabeth starb«, sagte er leise. »Einfach so, wie eine Rose im Winter. Es war die Pest, die sie mir vor nunmehr dreißig Jahren nahm. Ich … ich habe damals alles versucht. Doch all mein Wissen, all meine Klugheit, auf die ich mir so viel einbildete – das alles hat nicht ausgereicht, sie zu kurieren.«
Mit einer weit ausholenden Handbewegung wischte Virgilius plötzlich mit seinem Gehstock das Astrolabium und einige andere technische Apparate von den Regalen, klirrend zersprangen sie am Boden. Das Scheppern dröhnte wie Hammerschläge durch die unterirdischen Gänge.
»Was bringt uns die ganze verfluchte Wissenschaft, wenn wir doch nicht das eine Leben retten können, das uns etwas bedeutet!«, schrie er so laut, dass die Kinder sich wimmernd an Simon schmiegten. Tränen rollten wie kleine Perlen über das Gesicht des Uhrmachers. »Welchen Streich hat Gott uns nur gespielt, dass er uns denken lässt, aber nicht lenken! Nach Elisabeths Tod bin ich durch die ganze Welt gereist. Ich war in Afrika, in Arabien, im fernen Westindien, überall habe ich nach dem einen Mittel gesucht, das Leben schenkt. Aber alles, was ich von dort zurückbrachte, war dieser … dieser Plunder!«
Angewidert nahm der Uhrmacher das lange spitze Horn aus dem Regal, und Simon glaubte schon, er wollte ihn damit erdolchen. Stattdessen warf er es achtlos zur Seite. Dann schlug Virgilius mit seinem Stock wie von Sinnen auf die restlichen Regale ein.
»Nichts als Plunder, mit dem ich meine eigene kleine Wunderkammer gefüllt habe!«, keifte er. »Nichts als Dreck! Dinge, an denen wir uns ergötzen! Aber wir sind nicht in der Lage, das Natürliche selbst zu erschaffen. Alles ist nur billige Nachahmung von Gottes Werken! Alles …«
Er brach ab und ließ unvermittelt den Gehstock fallen. In der plötzlichen Stille erklang jetzt laut das Weinen der Kinder. Sie klammerten sich an ihren Vater und starrten angsterfüllt auf den kleinen zornigen Mann mit dem Buckel.
»Es … es tut mir leid, Elisabeth«, sagte Virgilius nun wieder ganz leise. »Ich … ich wollte die Kleinen nicht erschrecken. Kannst du sie wieder trösten? Ich weiß, dass du es kannst.«
Er ging hinüber zu der Puppe und drehte ein paar Rädchen in ihrem Rücken. Sofort begann Aurora ihre bekannte traurige Melodie zu spielen, während sie scheppernd einen kleinen Kreis fuhr. Es sah aus, als würde sie tanzen. Tatsächlich beruhigten sich die Kinder nach einer Weile wieder; der kleine Paul kiekste sogar vor Freude, als die Puppe einmal mehr mit ihren blechernen Augendeckeln klapperte.
»Bei Gott, ich schwöre, ich habe versucht, Elisabeth zu vergessen!«, murmelte Virgilius. Mittlerweile lehnte er neben Simon an der Wand und blickte starr geradeaus. »All die langen Sommer und Winter! Aber es gelang mir nicht. Nach außen hin wurde ich ruhig und vernünftig, doch darunter brodelte es weiter. Nach vielen Jahren des Reisens hat mir dann mein Bruder diese Stelle im Kloster verschafft. Als närrischer Uhrmacher! Maurus dachte wohl, ich wäre von
Weitere Kostenlose Bücher