Der Hexer und die Henkerstochter
nicht mehr erfahren«, zischte Prior Jeremias und zielte jetzt mit der Steinschlosspistole direkt auf Kuisls Gesicht. »Du hast recht, in der Waffe ist nur ein Schuss. Aber mit deiner Tochter werden wir auch noch nach deinem Ableben fertig. Merkwürdig, aber das alles hier beginnt mir so langsam richtig … Spaß zu machen.« Blitzschnell ergriff er ein dünnes Stilett von einem der Tische und hielt es Magdalena an die Kehle. »Vielleicht lassen wir uns mit der Dirne noch ein bisschen Zeit. Aber du fährst schon jetzt zur Hölle, Henker. Und nun leb wohl.«
Ein Klicken ertönte. In Erwartung des tödlichen Schusses warf sich Kuisl zur Seite, doch der Schuss kam nicht.
Stattdessen starrte der Andechser Prior entsetzt auf einen Armbrustbolzen, der in seinem rechten Oberarm steckte. Seine Finger öffneten sich kraftlos, und die Pistole fiel klirrend zu Boden. Das Gesicht des alten Bibliothekars neben ihm war plötzlich kalkweiß. Sein Blick war wie gebannt auf die Stufen gerichtet, die zum oberen Zugang führten.
»Bringt sie nicht um. Ich will sie lebend.«
Die Stimme kam von der Treppe her. Als Magdalena sich umdrehte, bemerkte sie vier Soldaten in einer Tracht, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Auf den ledernen Kürassen prangten Wappen mit einem goldenen Löwen auf schwarzem Feld. Zwei der Männer hielten Armbrüste in der Hand, die auf die beiden Benediktiner gerichtet waren.
Zwischen den Soldaten stand Graf Leopold von Wartenberg.
»Sieh an, da haben wir ja endlich das Nest der Reliquienschänder gefunden«, sagte er kalt. »Der Weilheimer Scharfrichter kann sich über seinen Verdienst dieses Jahr wirklich freuen. Für dieses abscheuliche Verbrechen werden zwei billige Scheiterhaufen jedenfalls nicht ausreichen.«
Sonntag, der 20. Juni Anno Domini 1666,
kurz nach Einbruch der Nacht
imon zuckte zusammen, als sich der Mann aus dem Totenreich beinahe fürsorglich zu ihm herunterbeugte. Unter der schwarzen Benediktinerkutte wölbte sich wie ein eigenes kleines Wesen der unförmige Buckel, die rechte Hand umklammerte den silbernen Knauf seines Spazierstocks.
Das kann nicht sein! , dachte Simon verzweifelt. Du bist tot! Ich habe dich mit eigenen Augen im Friedhofsgarten gesehen, zu einem Stück Kohle verbrannt!
Doch statt der schwärzlich verschrumpelten Leiche, die der Medicus vor zwei Tagen erst untersucht hatte, war dieser Virgilius ein äußerst lebendiger Zeitgenosse. In seinem Gesicht zuckte ein irres Grinsen, den Kopf hatte er schief gelegt, so als beobachte er mit großem Interesse die Lähmungserscheinungen seines Patienten.
»Täusche ich mich, oder habe ich gerade wirklich eine winzige Regung gesehen?«, sagte der Uhrmacher mit heiserer Stimme. »Es wäre interessant zu beobachten, ob das Gift mit der Zeit nachlässt. Leider werden wir dieses Experiment nicht mehr durchführen können. Schade, schade.«
»Nnnhh …« Zum ersten Mal war es Simon unter Auferbietung aller seiner Kräfte gelungen, einen Laut von sich zu ge ben. Vor Anstrengung wurde ihm beinahe schwarz vor Augen.
»Papa?«, fragte der kleine Peter ängstlich. Er und sein Bruder knieten neben ihrem Vater auf dem Steinboden und betatschten mit ihren kleinen Fingern sein Gesicht. »Papa krank?«
»Euer Vater ist nicht krank. Euer Vater ruht sich nur aus, bevor er auf eine sehr lange Reise geht.«
Virgilius erhob sich und humpelte, gestützt auf seinen Spazierstock, hinüber zu der Puppe, die noch immer in der Mitte des Raums verharrte. Ihr Mund stand mittlerweile still, und auch das Rattern und Knacksen hatte aufgehört. Sie war nichts weiter als ein lebloser Automat, dessen Uhrwerk stillstand.
»Ich dachte eigentlich, der kleine Bader würde für immer steif bleiben«, sagte Virgilius bedauernd. Er wandte sich an Aurora. »Ich dachte, ich könnte dir einen Spielkameraden erschaffen. Eine Puppe, wenn du selbst bald keine Puppe mehr bist. Was sagst du?« Mit gespielt verdutzter Miene beugte er sich hinüber zu Auroras Mund, so als würde sie ihm etwas ins Ohr flüstern. »Du meinst, ich bin unhöflich? Ich hätte dich noch gar nicht vorgestellt? Verzeihung, da hast du natürlich recht.«
Virgilius machte eine leichte Verbeugung in Richtung von Simon und deutete auf den grinsenden Automaten. »Werter Bader, dies hier ist Elisabeth. Das schönste und liebreizendste Geschöpf, dem ich in meinem ganzen Leben begegnen durfte. Ich nenne sie Aurora, die Morgenröte. Ein passender Name, findet Ihr nicht?« Er lächelte, doch Simon
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