Der Himmel auf Erden
Antworten. Eine Antwort war die, dass es zur Normalität gehörte, dass Kinder von Erwachsenen misshandelt wurden. Kinder und Jugendliche. Es geschah häufig in Familien. Fast immer in der Familie, dachte er und sah das Ehepaar Waggoner an. Es mochte um die dreißig sein oder vielleicht sogar jünger als sie im Augenblick wirkten. Ihre Gesichter waren jetzt eingefallen, gezeichnet von scharfen Linien und Schatten. Väter und Mütter schlugen ihre Kinder. Ihm waren viele solcher Kinder begegnet. Kinder, die behindert blieben für den Rest des Lebens. Manche konnten nicht mehr gehen. Oder nicht mehr sehen. Er dachte an den kleinen Simon, dessen Augen nicht mehr so waren wie früher.
Manche starben. Die, die überlebten, vergaßen nie. Niemand vergaß etwas. Himmel, er hatte erwachsene Opfer getroffen, aber die Wunde war sichtbar geblieben, in den Augen, in der Stimme. In ihrer Handlungsweise. Ein entsetzliches Erbe, das kein Erbe war, sondern viel schlimmer.
»Ich meine hier in der Stadt«, sagte Paul Waggoner. »Können Kinder wirklich entführt und misshandelt werden… und… vielleicht…« Er konnte nicht weitersprechen. Sein Gesicht fiel noch mehr in sich zusammen.
»Nein«, sagte Winter, »das ist nicht normal.«
»Ist es schon mal passiert?«
»Nein, nicht so.«
»How do you mean? Nicht so?«
Winter sah den Mann an. »Ich weiß noch nicht genau, was ich meine«, sagte er. »Wir müssen erst mehr darüber herausfinden, was wirklich passiert ist.«
»Ein unbekannter Verrückter hat unser Kind entführt, als es auf dem Spielplatz mit seinem daycare war«, sagte Paul Waggoner. »Das ist passiert.« Er sah Winter an, aber in seinem Blick war mehr Niedergeschlagenheit als Aggression. »Genau das ist passiert. Und ich habe gerade gefragt, ob so etwas schon einmal vorgekommen ist.«
»Über all das weiß ich bald mehr«, antwortete Winter.
»Wenn es schon einmal passiert ist, dann kann es wieder passieren«, sagte Paul Waggoner.
»REICHT ES DIR NICHT, DASS ES PASSIERT IST, PAUL?«, sagte seine Frau sehr laut und legte ihm einen Arm um die Schultern. »Uns ist es passiert, Paul. Simon ist es passiert. Reicht dir das nicht? Können wir uns nicht… darauf konzentrieren und versuchen… ihm zu helfen? Verstehst du das nicht? Lass doch die Polizei ihre Arbeit tun, dann machen wir… unseren Teil. Paul? Verstehst du, was ich sage?«
Er nickte kurz. Vielleicht hatte er es verstanden. Winter hörte, wie Ringmar hinter ihm die Tür öffnete. Er drehte sich um. Ringmar schüttelte leicht den Kopf.
»Haben Sie die Uhr gefunden?«, fragte Paul Waggoner.
»Nein«, antwortete Ringmar.
*
Larissa Serimowa zog den Riemen fest und spürte das Gewicht der Waffe an ihrem Körper. Oder war es das Wissen, was diese Waffe anrichten konnte? Eine SigSauer wog nicht mehr als irgendein anderer Gegenstand, dessen Gewicht man vergessen konnte. Aber das galt nicht für Pistolen.
Es war milde in diesem frühen Dezember wie in einem südlichen Land. Die Schaufenster im Weihnachtsschmuck bei elf, zwölf Plusgraden. Brorsson ließ die Autoscheibe halb herunter. Das Haar wurde ihm aus der Stirn geblasen. Er sah fast aus wie ein Traber auf dem Weg ins Ziel. Sie überlegte kurz, ob Pferde dumm waren oder nur nervös. Ein Blatt segelte im Wind vorbei und sie rasten in vollem Galopp auf den Abgrund zu. Dummheit? Nervosität? Beides?
Für Belle Brorsson galt beides. Larissa Serimowa lächelte, aber es war keine Freundlichkeit darin. Brorsson war für andere eine gefährliche Person.
»Pass auf, dass du keine Genickstarre kriegst«, sagte sie.
»Die krieg ich nur im Sommer«, sagte er. »Aus irgendeinem Grund nur im Sommer.«
»Ich kenn den Grund«, sagte sie, als sie zum Meer abbogen. Durch Brorssons geöffnetes Autofenster hörte sie Seevögel.
»Und das wäre?«
»Im Sommer kriegst du Genickstarre, weil du meistens bei geöffnetem Fenster fährst.« Sie sah das Wasser hinter den Feldern blitzen. Sie schienen fast genauso feucht wie das Meer.
»Aber jetzt ist nicht Sommer«, sagte er.
Sie lachte laut.
»Aber es ist mild«, sagte er. »Rein statistisch gesehen ist die Durchschnittstemperatur so hoch, dass es noch zum Sommer zählt.«
»Aber dann ist es ja Sommer, Belle«, sagte sie.
»Ja, da hast du tatsächlich Recht.« Er wandte sich ihr zu und blinzelte mit seinen Traberaugen.
»Und dann ist auch damit zu rechnen, dass du demnächst eine Genickstarre kriegst.« Sie schaute zu den Klippen und dem Meer, beide waren
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