Der Himmel auf Erden
»Das ist nicht die Haltung eines alten Mannes.«
»Die Frage ist, was der da getrieben hat«, sagte Ringmar und starrte auf das Bild, das ihren potentiellen Täter vor ihnen eingefangen hatte. Er spürte eine seltsame Erregung.
»Er hat die Kinder gefilmt«, sagte Winter.
»Das allein ist kein Verbrechen.« Ringmar rieb sich über dem Auge.
Winter sah eine strenge Falte in seinem Gesicht, die schärfer war als sonst.
»Es gibt normale Menschen, die filmen fast alles in Sichtweite.« Ringmar schaute auf. Die Stelle über seinem Auge war gerötet. »Er muss nicht Päderast oder Kinderräuber sein oder einer, der mit Brandeisen fuchtelt.«
»Andererseits könnte er es auch sein«, sagte Aneta Djanali. »Ein Verbrecher.«
»Wir müssen mit dem Bild arbeiten«, sagte Winter, »mit den Bildern. Vielleicht ist das einer, den wir aus dem Archiv kennen.«
»Die Kamera sieht neu aus. Die passt nicht zu seinem Outfit«, sagte Halders.
Niemand wusste, ob er es ernst meinte oder nicht.
*
Es war schwer, im Gedränge voranzukommen. So entsetzlich viele Leute und er schwitzte, und wäre da nicht die Frau mit dem Buggy zehn Meter vor ihm, dann wäre er überhaupt nicht hier, nein, nein. Er wäre zu Hause, allein.
Das Kind schien eingeschlafen zu sein, bevor sie das Einkaufszentrum Nordstan betraten. Dann waren sie in das schwarze Meer von Menschen getaucht, Menschen, die gingen und gingen und kauften und kauften.
Der Tag vor dem Tag vor dem Tag!, schrie jemand oder so was Ähnliches, aber was scherte ihn Weihnachten? Weihnachten war das Fest der Kinder. Er war kein Kind mehr. Er war einmal ein Kind gewesen und erinnerte sich daran.
Eine gute Idee. Sie war schon länger da gewesen, und jetzt nahm sie Formen an. Weihnachten war das Fest der Kinder. Er war allein, und er war kein Kind mehr. Aber er wusste, was Kindern gerade Weihnachten gefiel. Er war lieb, und er konnte alles tun, um einem Kind ein richtig schönes Weihnachtsfest zu bereiten. Richtig schön!
Er hatte so seine Zweifel, ob die Frau vor ihm dazu in der Lage war. Das Kind, das in unbequemer Haltung in dem Wagen schlief, fand sie bestimmt nicht besonders nett. Sie sah einfach nicht nett aus. Er hatte sie schon mal gesehen, als sie das Kind vom Kindergarten abgeholt hatte und er in der Nähe gewesen war. Er hatte sie tatsächlich schon mehrmals gesehen.
Er hatte den Jungen gesehen. Er hatte einen Mann gesehen, der vielleicht der Vater des Jungen war.
Er hatte den Jungen gefilmt.
Er hatte sie alle gefilmt. Vor dem Einkaufszentrum hatte die Frau eine Zigarette geraucht. Das gefiel ihm nicht. Sie hatte den Kopf zurückgeworfen und ausgesehen, als würde sie den Rauch trinken.
Jemand stieß ihn an, noch jemand. Er hatte den Buggy aus den Augen verloren, jetzt sah er ihn wieder. Die Frau war ihm eigentlich egal. Er war ihr vom Kindergarten hierher gefolgt. Das Auto könnte er später holen. Die Luft war kühl gewesen, aber er hatte nicht gefroren. Doch der Junge fror bestimmt, die Frau hatte ihn nicht ordentlich eingepackt.
Jetzt machte das nichts mehr, hier drinnen war es warm. Sie stand vor einem der Läden, die alles verkauften, was man nur verkaufen konnte. Die Türen waren weit geöffnet und breit wie Schleusentore, die Leute strömten hinein und hinaus wie schwarze Wassermassen, hinein und hinaus.
Er sah die Skulptur, die ihm gefiel. Sie wirkte so… frei. Die Körper schwebten vom Himmel hernieder. Sie waren frei. Sie flogen.
Er schaute sich um und bemerkte, dass sie den Wagen dort abgestellt hatte, wo man Parfüm, Haarwasser und Lippenstift und was es sonst noch so gab, verkaufte, vielleicht auch Kleider. Aber er sah nicht so genau hin. Doch, es waren Kleider. Das Parfüm gab es weiter hinten. Das wusste er ja.
Er sah die Füße des Jungen hervorragen, oder war es nur einer? Sie schien den Jungen anzuschauen oder etwas auf dem Boden neben dem Wagen. Vielleicht war ihr alles egal. Er drückte sich ein wenig zur Seite, um den Leuten auszuweichen. Sie war etwa zehn Meter von ihm entfernt und sah ihn nicht. Jetzt schob sie den Wagen etwas näher an einen der Tresen heran, sah sich um. Er begriff nicht, was sie tat.
Sie ging. Er sah sie zu einem anderen Tresen gehen, und dann hatte er sie aus den Augen verloren. Er wartete. Er sah den Wagen, niemand sonst sah ihn. Er passte auf ihn auf, während die Frau weg war und wer weiß was trieb.
Er hielt Wache. Leute gingen vorbei und dachten wohl, der Wagen gehörte jemandem, der bei den Tresen in der Nähe
Weitere Kostenlose Bücher