Der Himmel so fern
den ersten Jahren ihres Ehelebens hatten sie sich noch die Mühe gemacht: an ihrem Hochzeitstag einen Tisch im Restaurant reserviert, kleine Geschenke besorgt, sich Zeit füreinander genommen – doch zuletzt ließen sie, wenn auch vielleicht unabsichtlich, den Tag einfach verstreichen, als sei er ein Tag wie jeder andere. Jetzt lag Mikael in seinem Bett, umhüllt von den Bildern aus der Vergangenheit. An ihr Gespräch auf dem Sofa in der Hotelsuite konnte er sich noch sehr gut erinnern. Damals hatte er eine so friedvolle Ruhe verspürt. Er wusste, dass sie zwei zusammengehörten, und als Rebecka ihre Hand hochhielt und ihren goldenen Ring im Licht betrachtete, war ihm klar, dass sie dasselbe fühlte wie er. Was zu sagen war, war gesagt, was zu tun war, war getan. So unbeschwert und friedvoll war diese Erinnerung, dass er für einen Augenblick ganz frei atmen konnte und die Last der Trauer vergaß.
Als seine Mutter diskret an die Tür klopfte, musste er widerwillig in die Gegenwart zurückkehren.
»Bist du eingeschlafen?«, fragte sie und öffnete die Tür einen Spalt.
»Nein, nein, ich ruhe mich nur ein bisschen aus«, antwortete er und setzte sich auf. »Ich bin gleich da.« Er holte tief Luft, während Birgitta die Tür wieder schloss. In einer Stunde würde er vermutlich in einem pastellfarben gestrichenen Zimmer in einem bequemen Sessel sitzen und mit einer Fremden die Beerdigung seiner Ehefrau besprechen. Keine Erinnerung auf der Welt konnte daran etwas ändern.
»Ich habe ihn zur Pfarrerin begleitet. Es beruhigt ihn, wenn ich in der Nähe bin. Und mittlerweile hört er mir auch zu, wenn ich mit ihm rede. Er nimmt mich wahr. Auf dem Heimweg von der Kirche hat er mit mir gesprochen, hat sogar mit mir geschimpft, dass ich nicht da war. Ich konnte mir das Lachen nicht verkneifen. Ich war doch da, er sprach ja mit mir …«
»Dein Wunsch, ihm Gesellschaft zu leisten, ist verständlich.«
»Aber … Was denn, ich höre ein ›Aber‹?«
»Welche ›Aber‹ könnte es denn geben?«
»Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ich nach Hause gehöre, an Mikaels Seite. Ich liebe ihn, ich werde ihn niemals verlassen.«
»Manchmal können wir für jemanden, den wir lieben, nichts anderes tun, als ihn freizugeben.«
»Ich habe ihn freigegeben. Ich bin ja gegangen. Ich habe wirklich gedacht, dass es Mikael ohne mich besser haben würde, aber das hat nicht funktioniert. Das Einzige, was ich ihm beschert habe, ist Unglück und Elend. Deshalb kann ich ihn jetzt erst recht nicht verlassen. Nicht noch einmal. Verstehst du das nicht?«
»Für das, was du getan hast, wirst du nicht gerügt. Nicht hier. Von mir wirst du nur geliebt.«
»Geliebt? Du bist ja lustig. Arayan, was weißt du schon von der Liebe, du bist ja nicht mal ein Mensch?«
»Wissen Menschen alles über Liebe?«
»Wie meinst du das?«
»Vielleicht bedeutet die Liebe auch etwas, das die Menschen noch gar nicht entdeckt haben. Etwas, das sich jenseits des Besitzdenkens befindet.«
Anfangs hatten wir viele solcher Gespräche. Mir ging etwas durch den Kopf, doch wenn ich begann, mit Arayan darüber zu reden, verwandelte sich das Gespräch in etwas anderes. Die Dinge, über die Arayan sprechen wollte, waren größer. Oft fand ich, dass er überheblich und langweilig war.
Ich glaube, dass Arayan mir meine Enttäuschung ansah. Sicherlich versuchte er, so gut er konnte, mir auf der Ebene zu begegnen, auf der ich mich befand, doch wir sprachen verschiedene Sprachen. So sah ich es zumindest, er kam aus einer anderen Welt. Ich hatte aufgehört, seine Existenz in Frage zu stellen. Nicht, dass ich »an ihn glaubte«, doch immerhin war er der Einzige, mit dem ich reden konnte. Hätte ich ihn als Phantasie- oder Traumgestalt abgetan, so wie anfangs, wäre ich nur noch einsamer gewesen. Mit Arayan zu reden war für mich einfach eine Methode, nicht durchzudrehen, ein Gegenüber zu haben in dem Vakuum, in dem ich mich befand.
Besonders am Anfang war es eine große Umstellung für mich. Zum Beispiel die Zeit in diesem Hohlraum. Bei Mikael hatte ich einen Zugang zu der Zeit, in der ich einmal gelebt hatte, doch wenn ich zurückkehrte in das, was ich nun Himmel nannte, verschwand meine Fähigkeit, Stunden und Minuten zu unterscheiden. Ich konnte nicht einmal die Tage zählen, weil es keine Nächte gab. In der Nähe von Arayan zu sein war, als sei ich in einer Blase, um mich herum war alles dunkel, keine Sonne ging auf. Ich versuchte, das zu begreifen, und machte mir einen
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