Der Himmel ueber Dem Boesen
glauben.»
«Oh, hier bekommt jeder Aufmerksamkeit. Das eigentliche Kunststück besteht darin, anonym zu bleiben.» Merrily lächelte müde. Normalerweise bestärkte es sie, wenn Gemeindeglieder diese Art von Gesprächen suchten, aber an diesem Abend fühlte sie sich dem einfach nicht gewachsen. «Es tut mir leid, ich sollte Sie inzwischen eigentlich schon besser kennengelernt haben. Ich habe der Gemeinde in letzter Zeit aus verschiedenen Günden nicht so viel Aufmerksamkeit gewidmet, wie ich es tun sollte.»
«Zum Beispiel, weil Sie als Exorzistin tätig waren», zischelte Jenny Box.
«Als Beraterin für spirituelle Grenzfragen – das ist der Ausdruck, den wir heute bevorzugen.»
«Aha. Na, ich bevorzuge den alten Ausdruck. Wie oft werden Sie denn gerufen, um Menschen zu exorzieren?»
«Noch nie.»
«Noch nie?»
«Na ja, ich habe diesen Job erst seit einem guten Jahr. Ich habe noch keinen Fall gehabt, in dem … sich dämonische Besessenheit bestätigt hätte.»
«Aber Sie glauben, dass es das gibt?»
«Natürlich.» Daran war Merrily nicht gewöhnt. Falls die Einheimischen überhaupt darüber sprachen, was sie außerhalb der Gemeinde tat, dann jedenfalls nicht, wenn sie dabei war.
«Wie ist es mit Häusern? Exorzieren Sie auch Häuser?»
«Gelegentlich.»
«Und würden Sie mir darin zustimmen», fragte Jenny Box, «dass es manchmal ganze Gruppen gibt, die einen Exorzismus bräuchten? Ganze Betriebe … ganze
Milieus
?»
«Ich verstehe nicht ganz, wie Sie das meinen.» Merrily dachtean den vergangenen Winter und den fundamentalistischen Vater Ellis, der praktisch alles und jeden exorziert hatte.
«Reinigung. Die Austreibung des Bösen. Sie wissen wahrscheinlich, dass mich die Modelbranche inzwischen ziemlich abstößt. Und obwohl ich überhaupt nichts mehr damit zu tun habe, ist es … es ist, als hätte man eine schlechte Gewohnheit aufgegeben – Rauchen – und könnte es einfach nicht mehr ertragen, mit Rauchern auch nur zusammen zu sein. Man riecht sie einen Kilometer gegen den Wind, und es ist unerträglich widerlich, umso mehr, weil der Geruch von diesem unheilvollen Verlangen durchdrungen ist.»
«Stimmt.» Merrily spürte die Schachtel Silk Cut und das Feuerzeug neben dem Handy in ihrer Manteltasche.
«Hier aufs Land hinauszuziehen war für mich wie eine Entgiftung. Sie werden jetzt sicher fragen, warum ich gerade hierhergekommen bin, in dieses Dorf, um gereinigt zu werden.»
«Nein, das würde ich nie fragen. Ich versuche, nicht allzu neugierig zu sein.»
«Na gut. Und warum sind
Sie
hier?»
«Oh, das frage ich mich auch ständig.»
Mrs. Box lachte. «Sagen Sie, Frau Pfarrer, haben Sie jemals so etwas wie eine übersinnliche Erfahrung gemacht?» Merrily starrte sie an; Jenny Box hob beide Hände. «Ich weiß, ich weiß, das hängt davon ab, wie man
übersinnlich
definiert. Ach, die Geistlichkeit ist ja so vorsichtig heutzutage, sogar die Frauen.»
«Vor allem die Frauen. Wir haben immer noch das Gefühl, nur auf Probe dabei zu sein.»
Jenny Box betrachtete sie ernst. «Aber Sie sind die Zukunft. Das muss Ihnen doch klar sein. Wissen Sie, ich würde das und … einige andere Dinge gerne einmal mit Ihnen besprechen … wenn Sie irgendwann eine Stunde erübrigen können – ich meine, nicht jetzt. Sie haben es bestimmt eilig.»
«Na ja, es ist nur, meine Tochter –»
«Kein Ehemann also», warf Mrs. Box schnell ein.
«Er ist gestorben. Vor ein paar Jahren.»
«Eine junge Witwe, wiederverheiratet mit der Kirche.»
Das sagten die Leute öfter, und es ärgerte Merrily. Es fing wieder an zu regnen.
«Und das ist wunderbar», sagte Jenny Box. «Sie sind … gerettet worden.» Sie lächelte. «Es ist schwer, den alten Klischees zu entkommen, oder?»
Merrily hörte irgendwo in der Church Street eine Stimme.
«Ich beschäftige mich mit so etwas, weil ich ein Buch schreibe», sagte Mrs. Box, «über manches von dem, was ich erlebt habe.»
«Ja?» Merrily war nicht besonders überrascht.
Jenny Box: Die Qualen der Vergangenheit
.
Sicher würde das Buch als Fortsetzungsserie in einer Sonntagszeitung vorabgedruckt werden oder in einer Frauenzeitschrift. Wenn es sensationell genug war, wenn es «Enthüllungen» bot.
«Mom!»
Merrily drehte sich um und sah ihre Tochter die Straße heraufkommen. «Tut mir leid … das ist Jane … meine Tochter.»
Jenny Box trat einen Schritt zurück, und Merrily hatte plötzlich den starken Eindruck, dass diese Frau
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