Der Himmel über der Heide (German Edition)
21 Uhr, vor gut zwei Stunden.
Wieso hatte Simon sie nicht gleich auf ihrem Handy zurückgerufen? Schließlich musste er doch auf seinem Display sehen, dass sie es innerhalb der letzten 48 Stunden mehrfach bei ihm probiert hatte. Und wieso verlor er kein Wort darüber, wann er am nächsten Abend nach Hause kommen würde?
Ohne nachzudenken drückte Kati auf ihrem Telefon die Kurzwahltaste für Simons Handy und war nach einem kurzen Moment mit seinem Anschluss verbunden. Es klingelte, und Kati wusste genau, noch ein weiterer, sechster Ton, dann würde wieder die blöde Mailbox anspringen. Wieder einmal hatte Kati das Gefühl, dieses verflixte Ding würde ihre Sehnsucht, Simons Stimme zu hören und mit ihm zu sprechen, einfach verspotten und sie – wie so oft – kalt abweisen.
«Hallo …», begann sie, ohne genau zu wissen, was sie eigentlich sagen wollte. «Paps geht es besser, aber er liegt immer noch auf der Intensivstation. Am Wochenende will ich wieder in die Heide fahren. Sag mir doch mal, wann genau du nach Hause kommst. Vielleicht schaffst du es ja, mich zu begleiten oder nachzukommen? Also, melde dich, ja? Und zwar auf dem Handy! Gute Nacht.»
Die letzten beiden Sätze hatte sie mit einem überraschend scharfen Unterton vorgebracht, sodass selbst der unsensibelste Mann die versteckte Kritik verstehen musste. Aber im Grunde war Kati viel zu müde, um sich über Simons Ignoranz gegenüber ihren Sorgen und Ängsten aufzuregen.
Sie zog ihre Jacke aus, schleuderte ihre Schuhe in die Ecke und ging ins Wohnzimmer. Dort ließ sie sich mit einem tiefen Seufzer aufs Sofa fallen und schaltete den Fernseher an. Sie war hundemüde, aber die Gedanken kreisten unablässig in ihrem Kopf, und sie wollte sich noch etwas ablenken.
Doch sie musste wohl bald eingeschlafen sein und sich irgendwann mit der Wolldecke, die auf der Armstütze des Sofas lag, zugedeckt haben. Denn als sie mitten in der Nacht durch die Schreie aus irgendeiner drittklassigen Krimiserie hochschreckte, lag sie unter der Decke und war schweißgebadet.
Sie hatte ein unangenehm trockenes Gefühl im Mund, und ihr Herz raste. Ein schreckliches Gefühl kroch in ihr hoch, das ihr nur allzu vertraut war.
Kati richtete sich auf und wusste Bescheid. Es war nicht das Fernsehprogramm gewesen, das sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Es waren Szenen ihres immer wiederkehrenden Albtraumes gewesen.
Nicht schon wieder!, dachte Kati und fuhr sich durch die verschwitzten Haare. Würde sie die grausamen Bilder denn niemals loswerden?
Doch nach den jüngsten Ereignissen in der Heide ahnte sie, dass die schrecklichen Träume sie nun wieder regelmäßiger heimsuchen würden. Klarer und schockierender als jemals zuvor.
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4
Da sich Kati schon gedacht hatte, dass Flo verschlafen würde, besorgte sie am nächsten Morgen als Reiseproviant vorsorglich zwei Franzbrötchen beim Bäcker. Und tatsächlich musste sie mehrfach klingeln, bis ihre Freundin endlich den Summer betätigte.
Während Flo eilig unter die Dusche sprang und ein paar Sachen zusammenpackte, kochte Kati ihr einen starken Kaffee und setzte sich auf ihren Lieblingsplatz: einen quietschblauen Schaukelstuhl, der links vom Herd stand.
Kati mochte Flos Wohnung. Flos Geschmack war eher zeitlos, ihre Einrichtung puristisch, und doch hatte sie einen Sinn für liebevoll ausgesuchte Accessoires wie etwa den alten Schaukelstuhl in der Küche. Das gute Stück hatten sie zusammen auf einem Flohmarkt erstanden, und Flo hatte ihn zu Hause knallblau angestrichen. Zwar lag darauf immer ein Haufen Zeitungen und getragener Klamotten, dennoch verlieh er dem ansonsten schlichten Raum mit den weißen Möbeln und Vorhängen eine warme und harmonische Atmosphäre.
Als sie endlich aufbrachen und bereits südwärts in Richtung Lüneburger Heide fuhren, erzählte Kati ihrer Freundin von Orten mit so witzigen Namen wie Hützel oder Undeloh. Und während Kati nach ungeduldigen Spurenwechseln hinter der Elbe ordentlich Gas gab, drehte Flo die Mamma-Mia-CD auf, legte ihre nackten Füße aufs Armaturenbrett und sang jedes Lied aus voller Kehle mit. Sie hatte das Album bestimmt schon hundertmal gehört und kannte es in- und auswendig.
Rechts und links rauschte die Landschaft an ihnen vorbei, und Kati war froh, die Freundin an ihrer Seite zu haben. Denn nach der schrecklichen Nacht, in der sie von den alten Albträumen heimgesucht worden war, wäre sie nur ungern alleine zurück in ihre alte Heimat gefahren. Von
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