Der Himmel über der Heide (German Edition)
dem Tee und blickte anschließend zu ihrer Großmutter, die ebenso nachdenklich aus dem Fenster sah.
«Ach, Liebes …» Elli zog ein säuberlich gefaltetes Stofftaschentuch aus dem Ärmel ihrer Strickjacke. «So darfst du nicht denken. Deinem Vater ist einfach alles über den Kopf gewachsen.» Sie rückte näher an ihre Enkelin heran und reichte ihr das Taschentuch.
Mit feuchten Augen musterte Kati die Initialen auf dem feinen Stoff und wusste nicht, was sie sagen sollte.
«Du kennst ja deinen Vater», fügte ihre Großmutter noch hinzu und nahm ihre Hand, «genauso stolz und arbeitswütig wie früher dein Großvater.» Sie bemühte sich um ein Lächeln. «Aber mach dir nicht zu viele Gedanken. Ich passe in Zukunft besser auf ihn auf. Einer muss das ja schließlich machen!»
«Aber Oma, du bist doch nicht alleine mit all den Problemen. Dorothee ist schließlich auch noch da.»
Kati schnäuzte sich und wollte gerade noch etwas Beruhigendes hinzufügen, als Elli mit einer ungeduldigen Bewegung die Tasse von sich schob und verächtlich schnaubte. Sie murmelte ein paar unverständliche Worte und erhob sich ächzend.
Kati beobachtete ihre Großmutter dabei, wie sie ans Fenster ging und hinausblickte. Es schien, als würde sie der Anblick der Obstwiesen wieder etwas beruhigen.
Auch Kati hing für einen Moment ihren Gedanken nach. Das Verhältnis zwischen Dorothee und Elli war also nach wie vor angespannt. Was würde sie nur dafür geben, wenn die Sticheleien und Auseinandersetzungen endlich aufhören würden! In den vergangenen Jahren hatte es immer wieder Reibereien mit ihrer Stiefmutter gegeben.
Eine Szene auf dem 60. Geburtstag ihres Vaters im vergangenen Sommer kam Kati in den Sinn. Sie und Dorothee waren in Streit geraten, nachdem Kati versehentlich Dorothees elegantes Kostüm beschmutzt hatte. Sie war beim Einschenken angerempelt worden, und ein ordentlicher Schwall von Ellis selbstgemachtem Cassis landete auf Dorothees weißem Revers. Während die anderen Gäste mit ihren Sektgläsern geduldig auf einen Toast des Gastgebers warteten, hatte Dorothee einen Wutanfall bekommen. Das war typisch für sie: Wenn die sonst so kühle und kontrollierte Dorothee plötzlich aufbrauste, konnte sie sehr ungerecht werden. Und ganz offensichtlich litt auch Elli nach wie vor unter Dorothees seltsamen Anwandlungen. Im Alltag konnten sich die beiden Frauen vermutlich nur schwer aus dem Weg gehen, dachte Kati. Im Heidehof arbeiteten alle Hand in Hand, andernfalls wäre der Familienbetrieb nicht aufrechtzuerhalten.
Kati trank ihren Tee aus, erhob sich und trat zu ihrer Großmutter ans Fenster. Aus der Küche hatte man einen traumhaften Blick auf den alten Obstgarten. Die untergehende Sonne überzog die Bäume mit einem goldenen Schimmer.
«Wie schön es hier ist.»
Kati umfasste die Schultern ihrer Großmutter, und die beiden Frauen schlossen sich fest in die Arme.
Nachdem sie eine Weile in stiller Umarmung am Fenster gestanden hatten, räusperte sich Elli. «Komm», erklärte sie, «ich bringe dich jetzt nach oben und mache dir schnell dein Bett fertig.»
***
Nachdem sie ihrer Großmutter wenig später eine gute Nacht gewünscht hatte, schloss Kati die Tür ihres alten Kinderzimmers. Es lag ebenfalls in Richtung des Obstgartens. Von hier oben hatte man einen noch besseren Blick über das weitläufige Naturschutzgebiet.
Die Sonne war mittlerweile untergegangen. In einigen hundert Metern Entfernung begann der Wald, den Kati nur noch als schwarzen Schatten wahrnehmen konnte. Der Himmel im Westen war in ein dunkles Rosa getaucht und versprach auch für den nächsten Tag sommerliches Wetter. Ein kräftiger Regenguss wäre Kati deutlich lieber gewesen, aber vielleicht würde die Schwüle ja auch ohne reinigendes Gewitter endlich nachlassen.
Sie zog Ballerinas, Jeans und Bluse aus und beschloss, gleich ins Bett zu gehen, das Elli für sie frisch bezogen hatte. Das hatte sie sich trotz heftiger Proteste nicht abnehmen lassen.
Kurz überlegte Kati noch, ob sie sich am nächsten Morgen wohl etwas zum Anziehen leihen könnte. In all der Aufregung war sie nach Ellis Anruf so überstürzt aus der Agentur aufgebrochen, dass sie überhaupt nicht daran gedacht hatte, irgendetwas einzupacken. Unterwäsche, erinnerte sie sich, musste noch in der kleinen Kommode liegen, die links an der Wand stand. Vielleicht fand sich dort auch noch ein altes T-Shirt oder ein Hemd.
Elli hatte ihr aus dem Schränkchen über dem Waschbecken eine
Weitere Kostenlose Bücher