Der Himmel über der Heide (German Edition)
gebaut hatte. Er lag am Ende des Parkplatzes, kurz vor dem Wald, und war durch eine Hecke vom Heidehof getrennt. Neben einer großen Sandkiste und einem Holzklettergerüst gab es noch immer die alte Schaukel, auf der Kati mit ihrer Schwester früher so viel gespielt hatte. Ein schmales Holzbrett hing an zwei kräftigen Tauen von dem dicken Ast einer Eiche herab. Kati ließ sich darauf nieder und versuchte ihre Gedanken zu ordnen.
Der Vormittag war noch immer ein wenig diesig, aber die Sonnenstrahlen wärmten ihr bereits das Gesicht. Während sie langsam vor und zurück schwang, atmete sie tief durch. Der Geruch des Waldes wehte zu ihr herüber und entfaltete eine beruhigende Wirkung. Es war beinahe vollkommen still.
Kati beschloss, die Gegend neu zu erkunden, die ihr einst so vertraut gewesen war. Sie stand auf, wandte sich Richtung Süden und marschierte los.
Schon nach wenigen Metern lag ein heller Sandweg vor ihr, der sich durch die hügelige Heidelandschaft schlängelte. Sie folgte dem Pfad und spürte durch ihre dünnen Schuhe den weichen Muller, wie der fein rieselnde Sand hier genannt wurde. Nach etwa fünfzehn Minuten gelangte sie auf eine kleine Anhöhe. Sie blieb stehen und ließ ihren Blick über die weite Landschaft schweifen. Es war so friedlich hier. Die Heidepflanzen mit ihrem zu dieser Jahreszeit typischen, satten Grün bildeten einen geschlossenen Teppich, der nur vereinzelt von kleinen Geländeinseln unterbrochen wurde. Die meisten dieser Inseln waren mit Wacholderbüschen bewachsen, entweder mit den rundlichen, fast kugeligen, weiblichen Pflanzen oder mit den schlanken, in die Höhe strebenden männlichen. Auf einigen wenigen mit Gras bewachsenen Erhebungen standen Kiefern, die mit ihren knorrigen Stämmen und ihren recht spärlich ausgestatteten Kronen ein äußerst bizarres, aber reizvolles Bild boten.
Kati spürte, wie sie in der vertrauten Umgebung und vor allem in der für sie ungewohnten Stille immer ruhiger wurde. Langsam ließ auch die Wut auf ihren Chef nach. Sie hatte ja im Grunde damit gerechnet, dass Gero seinem schlechten Ruf wieder einmal gerecht werden würde. Gero, das Grauen! So wurde er von den meisten Kollegen heimlich genannt. Einzig Flo wagte es manchmal, ihm Kontra zu geben. Sie hatte sich durch ihre aufmüpfige Art sogar ein wenig Respekt bei ihm verschafft. Dennoch war sie als Texterin ebenso unterbezahlt wie alle anderen. Aber welche Alternativen hatten sie schon? Die Zeiten waren auch in der Werbebranche nicht besonders rosig. Und Hoffnungen auf einen Wechsel in eine größere Agentur machte sich keiner.
Wenn sie Freiberuflerin wäre, dachte Kati, könnte sie jetzt sofort alles stehen und liegen lassen und sich ganz der Familie widmen.
Aber auch so konnte sie unmöglich zurück nach Hamburg fahren, bevor nicht geklärt war, wie es mit ihrem Vater weitergehen würde. Entschlossen folgte sie dem Weg. Und obwohl sie fast verging vor Angst um ihn, ermahnte sie sich mit jedem Schritt, optimistisch und stark zu bleiben. Bestimmt würde ihr Paps noch heute wieder zu Bewusstsein kommen und erste Scherze über das Krankenhausessen machen. Auch für Elli und Dorothee wäre es besser, wenn sie mutig nach vorne schaute. Sie musste die beiden, so gut es ging, unterstützen. In ihrem Alter würde die Großmutter keine zusätzliche körperliche und psychische Belastung verkraften. Elli sollte sich keine Sorgen machen müssen. Auch wenn zu befürchten war, dass Paps nicht sofort wieder ins Geschäft einsteigen konnte. Schließlich musste er zuerst einmal wieder ganz gesund werden. Und die Angst, dass er vielleicht nie wieder in der Lage sein würde, den Hof zu führen, verdrängte Kati, so gut es ging.
In Gedanken versunken war sie dem schmalen Weg gefolgt und stand plötzlich vor einer riesigen Kiefer. Sie kannte den mächtigen Baum gut. In ihrer Familie wurde er immer nur «der Kletterbaum» genannt.
Als Kind war sie so oft auf diesen Baum gestiegen, dass sie jeden Ast und jeden Zweig kannte. Stundenlang war sie auf der knorrigen Kiefer herumgeturnt, ohne dass ihr langweilig wurde. Mal ging es nur darum, möglichst weit nach oben zu kommen, manchmal wurde die Baumkrone aber auch zum Schiffsdeck, von dem aus man in der Ferne Land sichten konnte. Oder sie hielt wie auf einer Safari Ausschau nach wilden Tieren. Die Heidschnucken wurden dann zu einer Herde Gnus und die Hütehunde der Schäfer zu gefährlichen Raubkatzen. Einer der Schäfer hatte stets ein paar Honigbonbons für sie
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