Der Himmel über der Heide (German Edition)
Lächeln. Wie hübsch sie war mit ihren gewellten, dunkelbraunen Haaren, dachte Kati. Das Foto musste irgendwann in einem Sommer Ende der 70er gemacht worden sein. Ihre Mutter trug einen Minifaltenrock und eine Bluse, deren Kragen ziemlich breit war. Kati mochte das Foto. Ihre Mutter sah darauf sehr glücklich aus.
Bevor ihre Augen zu brennen begannen, löschte Kati schnell das Licht und starrte noch eine gefühlte Ewigkeit in das bedrückende Halbdunkel. Und doch konnte sie nicht verhindern, dass sich ein paar stumme Tränen den Weg über ihre Wangen bahnten.
Die Gedanken in ihrem Kopf gerieten in einen schwindelerregenden Strudel und vermischten die Bilder der Vergangenheit mit denen ihres Vaters im Krankenhaus. Sie verschwanden auch nicht in der kurzen Spanne zwischen Wachsein und Schlaf, sondern erst als Kati von der Müdigkeit überwältigt wurde.
Schließlich ging ihr Atem so ruhig und gleichmäßig, dass sie nicht einmal den aufkommenden Wind bemerkte, der ein Sommergewitter ankündigte. Schon erleuchteten die ersten Blitze den finsteren Himmel über dem weiten, sanft gewellten Land. Aber selbst der grollende Donner konnte Kati in dieser Nacht nicht aus den Albträumen wecken, die sie seit über zehn Jahren verfolgten.
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2
Am nächsten Morgen lag Katis Vater noch immer im künstlichen Koma. Dr. Steindamm hatte empfohlen, zunächst von weiteren Besuchen abzusehen. Das jedenfalls hatte Dorothee ihnen nach einem Telefonat mit dem Krankenhaus mitgeteilt. Sie war bereits mit ihrem Wagen losgefahren, um etwas zu erledigen. Genaueres wusste Kati nicht.
Elli kümmerte sich zusammen mit der Küchenhilfe um das Frühstück der Gäste. Kati blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten. Da sie mit den Abläufen nicht vertraut war, hatte sie mehrfach ungeschickt im Weg gestanden und war von ihrer Großmutter schließlich sanft verscheucht worden.
Kurzerhand hatte sich Kati auf ihr Zimmer zurückgezogen und versucht, ihren Chef in der Agentur zu erreichen. Da Gero jedoch meist der Letzte war, der am Morgen das Büro betrat, rief sie zunächst ihre Freundin Flo an.
«Er ist noch immer nicht aufgewacht», erklärte sie, als sich Flo mitfühlend nach ihrem Vater erkundigte.
Kati brachte sie auf den neuesten Stand und klang offenbar so bedrückt, dass Flo besorgt fragte: «Soll ich kommen? Ich meine, ich kann dich doch nicht in der Heide alleine lassen, wenn du mich brauchst.»
«Danke, das ist lieb gemeint, aber ich muss erst mal schauen, wie es überhaupt weitergeht.»
«Weißt du was?», entgegnete Flo kurzerhand. «Wir machen es anders. Was hältst du davon, wenn ich am Wochenende zu dir rauskomme und dir ein bisschen Gesellschaft leiste?»
Katie war gerührt, mochte das Angebot jedoch nicht sofort annehmen. Flo war wirklich die tollste Freundin, die man sich wünschen konnte: immer zur Stelle, wenn es mal schlecht lief. Und Kati wusste, dass Flo ihr, so gut es ging, den Rücken frei halten würde. Tatsächlich versprach sie, sich um das aktuelle Projekt zu kümmern, solange Kati nicht in der Agentur war.
Das verschaffte Kati ein wenig Luft. Nun musste sie nur noch ihren Chef bitten, ihr spontan ein paar Tage Urlaub zu geben. Und da Gero noch immer nicht in der Agentur erschienen war, rief Kati ihn kurzerhand auf dem Handy an.
Wie sie nicht anders erwartet hatte, nahm er nur wenig Anteil am Zustand ihres Vaters. Für Gero zählte allein die Firma. Und als Kati ihr Anliegen vortrug und darum bat, für zwei Tage Urlaub nehmen zu dürfen, willigte er nur zähneknirschend ein. Er beschwerte sich sogar, dass sie ihre Arbeit im Stich ließ, und fügte am Ende mürrisch hinzu, Kati solle endlich ihr Privatleben in den Griff bekommen.
Diese vollkommen unangebrachte Bemerkung machte sie derart wütend, dass sie nach dem Telefonat dringend frische Luft brauchte. So viele Gedanken wollten sortiert werden. Ganz zu schweigen von den angestauten Aggressionen, die sie loswerden musste. Wie konnte Gero so wenig Mitgefühl zeigen? Hatte sie sich nicht schon genug für seine Agentur ins Zeug gelegt? Was war mit den unzähligen unbezahlten Überstunden?
Kati beschloss, einen kleinen Spaziergang zu machen. Im Moment konnte sie im Gasthof ohnehin nichts tun, und auf keinen Fall wollte sie unnötig im Weg stehen.
Sie gab Elli Bescheid, zog sich ihre Jeansjacke über und trat aus dem Haus.
Ohne nachzudenken, ging sie in Richtung des kleinen Spielplatzes, den ihr Vater zusammen mit anderen Dorfbewohnern
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