Der Himmel über der Heide (German Edition)
in der Tasche gehabt. Auch wenn der hochgewachsene Mann namens Ewald ansonsten eher wortkarg war und den Kontakt zu Fremden mied.
Kati trat näher an den Stamm der Kiefer und betastete vorsichtig die Rinde. An einer Stelle waren die eingeritzten Buchstaben eines Namens zu lesen. Man musste sehr genau hinsehen, um die Schrift entziffern zu können. Die Witterung hatte die Spuren verwischt. Als ihre Finger über die Stelle fuhren, zuckte Kati unwillkürlich zurück. Wie tausend kleine Nadelstiche bohrte sich die schmerzhafte Erinnerung in ihren Brustkorb: Jule! Da war er, der Name, der mit ihren Albträumen verbunden war und der sie nachts so oft nicht schlafen ließ.
Kati spürte, wie sie ein übergroßes Gefühl der Einsamkeit und des Alleinseins überkam und drohte, ihr den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Sie schluckte und unterdrückte den Drang, einfach loszuweinen. Denn sie wusste, das half ohnehin nichts. Also atmete sie tief durch und bemühte sich mit aller Kraft, die Kontrolle nicht zu verlieren. Sie musste sich in die Gegenwart zurückholen. Auch wenn sie ahnte, dass die Wunden der Vergangenheit noch längst nicht geheilt waren.
***
Als sie eine halbe Stunde später zurück zum Heidehof kam, ging Kati kurz auf ihr Zimmer, um sich das Gesicht mit kaltem Wasser zu waschen. Sie wollte nicht, dass jemand ihre Traurigkeit bemerkte. Dann machte sie sich auf die Suche nach ihrer Großmutter. Vielleicht konnte sie ihr doch noch bei der weiteren Tagesplanung helfen.
Elli war in der Küche, wo sie mit erstaunlicher Schnelligkeit zwischen den Tischen und Ablagen herumwirbelte. Voller Konzentration verstaute sie Teller und Töpfe in den großen Metallregalen und räumte das Geschirr vom Frühstücksbuffet in die große Spülmaschine. Kati sah ihr von der Tür aus zu. Überall standen Töpfe, Pfannen und Schalen herum. Fast sah es so aus, als würde ihr Vater hier jeden Augenblick ans Werk gehen und ein viergängiges Menü zaubern. Die meiste Zeit seines Lebens hatte er wohl in diesem Raum verbracht.
Während Kati ihre zierliche Großmutter bei der Arbeit beobachtete, stiegen Erinnerungen an früher in ihr auf. Wie oft hatte sie ihren Vater und Elli in der Küche aufgesucht, um etwas zu naschen oder um Neues aus der Schule zu berichten. Häufig wollte sie auch einfach nur in ihrer Nähe sein, und sie genoss es, wenn Elli ihr im Vorbeigehen über die Haare strich. Schon damals war die Großmutter Kati recht alt erschienen. Elli hatte schon sehr früh erste graue Haare bekommen. Außerdem trug sie zumindest bei der Arbeit meistens einen Kittel, der sie nicht besonders vorteilhaft kleidete.
Vielleicht war es aber auch mehr eine Frage der Generation als des Alters gewesen, dachte Kati. Heute sahen Frauen um die sechzig wesentlich jünger aus.
Auch Ellis Gang war bedächtiger geworden und ihre Figur noch schmaler als ohnehin schon. Doch jetzt wirbelte sie herum, als hätte die Zeit keine Spuren hinterlassen. Der geblümte Kittel, den sie heute trug, schlackerte um ihre Hüften und war mindestens eine Nummer zu groß.
Vielleicht sollte sie Elli mal zu einer kleinen Shoppingtour überreden, wenn es ihrem Vater besser ging und im Heidehof wieder alles normal lief, dachte Kati. Sie konnte sich nicht erinnern, dass sich ihre Großmutter seit dem runden Geburtstag ihres Sohnes irgendetwas Neues zum Anziehen gegönnt hatte. Überhaupt hatte sie sich in letzter Zeit viel zu wenig um Elli gekümmert. Wann hatten sie eigentlich das letzte Mal etwas gemeinsam unternommen? Vielleicht könnten sie sich mal einen schönen Tag in Hamburg oder Lüneburg machen.
Kati fuhr sich durch die Haare und betrat die Küche. «Ich bin wieder da», erklärte sie.
Elli schrak aus ihrer Versunkenheit auf. Als sie ihre Enkelin sah, zog ein Lächeln über ihr Gesicht. «Das ist schön. Ich hoffe, der Spaziergang hat dir gutgetan. Möchtest du etwas essen?»
«Nein, danke, ich habe keinen Hunger. Was kann ich helfen?»
«Ach, lass mal. Du würdest mir nur alles durcheinanderbringen. Setz dich, ich mache dir einen Kakao.»
Die Großmutter lächelte Kati warm an.
«Ich bin doch keine zwölf mehr», sagte Kati kopfschüttelnd und hauchte Elli zum Dank einen Kuss auf die Wange.
«Für mich wirst du immer meine Kleine bleiben», erwiderte Elli und lächelte versonnen. «Und zu einem Tee sagst du bestimmt nicht nein.»
«Habt ihr was Neues von Papa gehört?» Kati zog sich einen Stuhl heran. «Diese Warterei ist schrecklich, findest du
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