Der Himmel über New York (German Edition)
meinen Partys erscheint sie ungefragt im Zimmer und setzt sich mit einem Glas Wein auf den Boden. Selbst wenn alle Stühle frei sind. Aber wenn ich sonntags um elf von ihren quietschenden Schritten aufwache, fühle ich mich, als käme ich aus meinem Zimmer direkt aufs Polizeirevier.
Wann warst du zu Hause gestern Nacht?
Hat Max dich gefahren?
Bist du allein?
Sie ist meine Mutter. Das legt die Spielregeln fest. Sie darf mich diese Dinge fragen. Ich habe das Recht, die Aussage zu verweigern.
Aber wie behandelt man eine ältere Frau, die sich für mich verantwortlich fühlt? Sind ein paar Hundert Dollar Miete für vier Wochen nicht genug, mir meine Ruhe zu erkaufen?
Eigentlich hatte ich Anne noch einmal nach dem Buch mit New-York-Gedichten fragen wollen. Und dann, später: träumen. Auf einer Fensterbank sitzen, lesen, zwischendrin Autos zählen. Spielchen spielen: Wenn in den nächsten fünf Minuten mindestens sieben blaue vorbeifahren, sehe ich ihn wieder, den Fahrradkurier. Dann wird er da sein, beim Slam in der Poets’ Bar. Aber jetzt bin ich nicht mehr in Stimmung dazu. Ich fahre hoch in Annes Wohnung, werfe einen Blick in mein düsteres Zimmer und gehe dann in die Küche. Die ist zwar auch nicht gemütlich, aber wenigstens hell.
In der Spüle steht eine Teetasse voller Wasser, das Etikett eines Teebeutels hängt noch über den Rand des Mülleimers. Der Fernseher auf dem Küchentisch läuft ohne Ton. Auf dem Bildschirm beugt sich gerade eine Talkmasterin zu einer Frau mit Vogelgesicht, der Tränen über das Gesicht laufen. Der Schriftzug Why can’t you forgive me? blinkt in blauen Lettern von der Studiowand.
Ich greife nach der Fernbedienung und schalte den Ton ein. Die weinende Frau hält jetzt eine andere im Arm. Es muss ihre Tochter sein. Die beiden ähneln sich wie zwei Luftballons, von denen der eine prall aufgeblasen und der andere kraftlos in sich zusammengesackt ist.
»Ihre Tochter hat Ihnen also seit zwanzig Jahren nicht mehr gesagt, dass sie Sie liebt?«, fragt die Talkmasterin mit öliger Stimme. Die ältere Frau schüttelt den Kopf und schluchzt. Dabei krampft sie ihre Hände um den fettigen Hals ihrer Tochter, als könnte sie sich nicht entscheiden, ob sie sie umarmen oder erwürgen will.
»Und Sie glauben, auch das ist ein Grund für Ihre schweren Depressionen und Ihre drei Selbstmordversuche?« Schluchzen. Nicken. »Dann sagen Sie ihr es jetzt!«, drängt die Talkmasterin die dicke Tochter, wahrscheinlich wird die Sendezeit knapp. »Es ist nie zu spät, zu verzeihen!«
»I love you, Mummy« , japst sie. Was soll sie auch sonst tun, wenn sie nicht stranguliert werden will?
Während ich die Plastikkappe vom Deckel meiner Saftflasche pule und mich frage, wozu der Deckel noch diesen Extraschutz hat, fängt mein Handy an, Musik zu machen. New York, New York. Frank Sinatra. Schöner Klingelton.
Einen Augenblick lang hoffe ich, dass es der Fahrradkurier ist. Der gar nicht weiß, wo ich bin.
Der, am Rande bemerkt, nicht einmal weiß, wie ich heiße.
»Jenny?«
Natürlich ist er es nicht.
»Hi, Max«, seufze ich.
»Hi, Schatz. Du klingst so nah.«
Am liebsten möchte ich ihm alles sagen. Reden, obwohl noch gar nichts zu erzählen, zu gestehen, zu verzeihen ist. Ich bin nicht nah, möchte ich sagen, ich bin weit weg. Nichts ist hier so, wie ich es mir vorgestellt habe, aber trotzdem vermisse ich dich nicht so, wie ich dachte. Ich will nichts hören von Plattenflohmärkten in Schulturnhallen, Aktionswochen im Biergarten oder ob du einen Platz im Auto auf der Fahrt zum nächsten Open-Air-Konzert bekommen hast.
»Jenny? Bist du noch dran?«
»Du klingst auch ganz nah.«
Am liebsten würde ich einfach sagen, was mir durch den Kopf geht. Aber ich weiß zu gut, wie er darauf reagieren würde. Den Kopf in die Hände stützen und gar nichts sagen. So ist es immer, unsere Streitgespräche versiegen einfach. Irgendwann lege ich ihm die Hand auf die Schulter, ein Zeichen, dass alles wieder gut ist. Am Telefon geht das schlecht. Vielleicht sollte ich ihm eine Mail schicken. Geschriebenes ist oft klarer als Gesprochenes. Vor allem ist es unwiderruflicher.
»Alles klar in New York?«, fragt Max und stößt ein unsicheres kleines Lachen aus.
»Stress mit Anne.«
Ich fahre mit den Fingern die Konturen eines Fotos nach, das über dem Fernseher in einem staubigen Wechselrahmen hängt. Es ist ein Hochzeitsfoto mit einer Anne, die ich nicht kenne. Nicht mehr die traurige Schöne im Batikrock, von der
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