Der Himmel über New York (German Edition)
den Kopf. »Nein, Jenny. Bei mir ist das was anderes, ich kann so leben, weil ich fast vierzig Jahre älter bin als du. Irgendwann verengt sich der Weg, den man gehen kann. Aber du hast nicht nur das Recht, du hast die verdammte Pflicht, große Träume zu haben.«
Sie beugt sich vor, bohrt mir einen Zeigefinger in die Brust und sieht mich streng an. »Wer nicht nach den Sternen greift, mein liebes Kind«, sagt sie, »der hat sie auch nicht verdient.«
22.
D er Morgen ist so kühl und klar wie mein Kopf. Es ist sechs Uhr. In den Alleebäumen brüllen sich Vögel an. Eine Armee von Kleinwagen rollt über die Roosevelt Avenue, auf dem Weg zur Arbeit. Ich sitze auf meinem Koffer und warte auf mein Taxi.
Im dritten Stock steht ein Fenster offen. Ein Vorhang bewegt sich im Wind.
Anne wollte mich unbedingt zum Flughafen fahren. Aber ich habe sie nicht gelassen. Es ist ein schwieriger Weg. Aber ich muss ihn alleine gehen.
Ich dachte immer, Liebe ist genug. Aber so leicht ist es nicht. Leroys harte Rückenmuskeln unter meinen Fingern, seine Rotweinstimme, die Art, wie er auf der Bühne steht, das alles kann mir meinen eigenen Traum nicht ersetzen. Es ist einfach, wenn ich mir von ihm einen Platz in der Welt zuweisen lasse. Aber woher soll ich wissen, ob es meiner ist, wenn ich mich nicht selbst mal hier- und mal dorthingestellt habe?
Ein Fahrrad nähert sich von links und biegt mit quietschenden Reifen um die Ecke. Gummi reibt sich an der Bordsteinkante. Ich wage nicht, meinen Kopf zu wenden. Einen Moment noch möchte ich mir ausmalen, wie es wäre, wenn das Geräusch des Reifens tatsächlich zu Leroy gehören würde. Wenn er jetzt vor mir stände, eine Hand auf den Sattel gestützt, die andere am Griff seines Rucksacks. Liberty License .
Aber ich habe mich getäuscht.
Leroy trägt keinen Rucksack.
Der Rinnstein ist so hoch, dass wir uns Auge in Auge gegenüberstehen.
»Hello, Stranger« , presse ich schließlich heraus.
»Lydia sagt, ich bin ein kompletter Idiot«, sagt Leroy düster, »ein richtiges Weichei.«
Meine Finger gehorchen mir nicht, wollen reflexartig dahin, wo sie sich auskennen: in seinen Nacken, um seinen Hals. Kaum schaffe ich es, sie zurückzupfeifen.
»Fragt sich, wer von uns beiden der Idiot ist.«
»Nein, das steht eindeutig fest. Lydia sagt, wenn ich so wenig Stolz habe, dann spricht sie nicht mehr mit mir.«
»Weil du mich noch mal sehen wolltest, bevor ich fliege?«
Er nickt. Jetzt sind es meine Lippen, die mir nicht mehr gehorchen. Neunzehn Jahre Frieden, und auf einmal machen sich meine Körperteile selbstständig. Ich frage mich, wo das hinführen soll. Ich gehe einen Schritt auf ihn zu, schließe die Augen, erwarte seinen Kuss.
Nichts passiert.
Ich blinzle, bin gerade so weit von seinem Gesicht entfernt, dass seine beiden Augen nicht zu einem verschwimmen.
»Ich hab dich vermisst, du Idiot«, sage ich schließlich.
»Und ich dich erst, blöde Kuh.«
»Ich muss gleich los zum Flughafen.«
»Ich weiß.«
»Ich habe dauernd an dich gedacht.«
»Ich weiß.«
»Und jetzt haben wir keine Zeit mehr.«
»Wer weiß. Vielleicht doch. Wenn wir wollen.«
Er will noch etwas sagen, aber das dumpfe Geräusch einer zuschlagenden Autotür lässt uns herumfahren.
»Miss, Sie Taxi? Haben angerufen?« Der kleine pockennarbige Fahrer ergreift meinen Koffer und wuchtet ihn in den Wagen.
»Junger Mann kein Gepäck? Was mit Fahrrad?« Wir schütteln synchron die Köpfe.
»JFK Airport?«
»Nein, Newark.«
»Wann geht Flugzeug?«
Er reißt theatralisch die Augen auf, als ich ihm die Uhrzeit nenne. »Dann müssen machen Goodbye, schnell! Viel Verkehr!«
Ich laufe mechanisch auf die hintere Wagentür zu, ziehe an dem verchromten Griff, lasse mich in die Kunstlederpolster fallen, fixiere den Stadtplan vor mir auf dem Rücksitz, auf dem die Stadtbezirke New Yorks in verschiedenen Farben gekennzeichnet sind. Bronx. Brooklyn. Queens. Staten Island. Manhattan. Die ganze Zeit über warte ich darauf, dass etwas geschieht. Dass wie im Märchen eine gute Fee erscheint, die die Zeit einfriert, sodass Leroy und ich keine Entscheidungen treffen müssen. Sodass ich nicht schon in ein paar Stunden über den Eisfeldern Grönlands schwebe.
Ich drehe mich um, sehe ihn durch das Heckfenster dastehen, eine Hand am Lenker. Er wischt sich mit dem Ärmel seines T-Shirts das Gesicht ab. Nass von Schweiß, von Tränen, ich weiß es nicht.
Nichts passiert. Nur das Taxi fährt los.
Leroy stößt sich an der
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