Der Himmel über New York (German Edition)
blitzkurz schneiden lassen. Einen Prinzen aus dem Morgenland reizten Frauen mit kurzen Haaren sicher nicht. Außerdem trug ich Jeans, Pullover, Schal, kurze Kunstlederjacke und hochhackige Stiefel, alles topmodisch, aber keineswegs elegant oder gediegen. Im Gegenteil. Die Jagd nach Schuhen und Hosen für fünf Euro in den angesagten Billigstläden, die meine Freundinnen Meike und Nele und ich zu unternehmen pflegten, kam mir auf einmal kindisch vor. Wir waren nur Schülerinnen ohne Geld. Und der junge Mann im eleganten Wintermantel mit Kaschmirschal hatte mir das sicherlich sofort angesehen. Zu jung. Nicht sein Niveau.
Und wie hätte ich ihn meinem Vater oder meiner Stiefmutter Jutta verkaufen sollen? Was würden sie sagen, wenn ich einen solchen Mann anschleppte? So märchenhaft schön, so elegant, kultiviert, reich, jedoch offensichtlich aus fernen Landen und fremder Kultur. Jutta war ohnehin schon ziemlich nervös, was meine Freunde betraf. Sie fürchtete ständig, dass ich die Schule schmeißen würde. Jutta befürchtete ständig allerlei. Und ich machte es ihr auch nicht gerade leicht. Wenn sie mich nervte mit ihren Bedenklichkeiten, dann sagte ich: »Du bist nicht meine Mutter!« Und sie kniff die Lippen zusammen und antwortete: »Aber einen gut gemeinten Rat könntest du trotzdem annehmen.« Sie steckte voller guter Ratschläge. Solche wie: »Zieh dir ein Unterhemd an. Ihr holt euch doch alle eine Nierenentzündung, wenn ihr in diesen kurzen Jacken herumlauft.«
Leider waren all diese Gedanken unnötig. Ich hatte den ganzen Schillerplatz abgeklappert, den Durchgang zum Marktplatz, den ganzen Markt unterm Rathausturm, auch die Seitenarme in den Nebenstraßen, hatte die Markthalle umrundet und stand wieder vor dem Stand mit den Erzgebirgsengelchen. Aus der Traum! Ein Hirngespinst, eine typische Finja-Idee war das gewesen. Ich war einer Fantasie hinterhergejagt und hatte sie nicht fassen können. Aber ich hatte es wenigstens versucht. Es hatte eben nicht sein sollen. Auch wenn es sich nun anfühlte wie ein Loch im Herzen.
Aber eines dieser Engelchen musste ich kaufen. Es ging nicht anders, auch wenn sie erschreckend teuer waren. Aus irgendeinem Grund war es wichtig, dass ich ein Andenken behielt. In meiner Hand fand sich ein Engelchen ein, das in einem Halbmond saß, hingebungsvoll sang und mit den Beinen baumelte. Man konnte es an den Weihnachtsbaum hängen. Also das.
Ich bezahlte, die Verkäuferin steckte es mir in ein Tütchen, ich versenkte es in meiner Jackentasche und wandte mich zurück zum Marktplatz, wo mein Vater und seine Studenten immer noch ihren Glühwein tranken. Ich fühlte mich müde und ausgelaugt. Obendrein hatte ich fast die Hälfte meines Weihnachtsgeschenkbudgets für ein Erzgebirgsengelchen ausgegeben, für das ich keinerlei Verwendung hatte. Jutta fand diese Art von Christbaumschmuck kitschig. Sie duldete nur selbst gebastelte Strohsterne und Bienenwachskerzen. Und dieses Jahr würden wir ohnehin keinen Baum haben. Wir würden in Dubai sein. In dieser islamischen Gegend feierte man Weihnachten nicht.
Am Stand waren die Studenten und mein Vater bei einer weiteren Runde Glühwein angelangt und ziemlich fröhlich. Mein Glas mit dem kalt gewordenen Wein stand auch noch dort und ich wäre am liebsten umgekehrt. Doch dann traf es mich wie ein Blitz.
Da stand er ja! Zwischen Boris und meinem Vater mit hochgeschlagenem Mantelkragen, das Kinn im Schal. Im gelben Licht der Standbeleuchtung schimmerte seine Haut wie Samt. Sie war deutlich dunkler als die seiner Kommilitonen. Eine Hand steckte tief in der Manteltasche, mit der anderen hob er gerade einen Kaffeebecher an die Lippen. Dampf stieg auf, fing einige Schneeflocken ab und verwandelte sie in Tropfen.
Und mit einem Schlag wusste ich, wer er war: Chalil ibn Nasser as-Salama. »Unser Scheich«, wie mein Vater ihn immer genannt hatte. »Blitzgescheit.«
Er war der Sohn des Scheichs, dem mein Vater und sein Institut den Auftrag in Dubai verdankten. Er studierte seit einem Jahr bei meinem Vater und hatte gerade sein Diplom gemacht.
»Chalil«, rief mein Vater, als ich bei ihm anlangte, »darf ich dir mein Spätzelchen vorstellen, meine Tochter Finja?«
Eben noch hatten Chalils Augen aufgeblitzt – schwer zu sagen, ob erfreut oder irritiert, zumindest aber überrascht –, doch im nächsten Moment schon legte sich ein höfliches Lächeln auf seine Lippen. Er nickte und streckte mir die Hand über den Mülleimertisch entgegen. »Angenehm«,
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