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Der Himmel über New York (German Edition)

Der Himmel über New York (German Edition)

Titel: Der Himmel über New York (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verena Carl
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ist meine Geldbörse!«, sagte ich, aufgeregt und außer Atem bei dem Mann ankommend.
    »Bitte sehr!«, erwiderte er.
    Ich hätte sie beinahe fallen lassen, als sein Blick in meinen tauchte. Was für Augen! Pechschwarz unter langen Wimpern und dichten schwarzen Brauen! Und was für ein Gesicht! Sehr jung, glatt und südländisch dunkel mit markanter Nase und kräftigem Kinn. Auf seinen Lippen lag ein leichtes Lächeln. Es war ein schönes, dennoch sehr männliches Gesicht. Ich musste ihn einfach angucken. Entweder war er ein reicher britischer Collegestudent oder ein Prinz aus dem Morgenland. Beide gehörten nicht zwischen Lebkuchen- und Glühweinbuden.
    »Warum haben Sie ihn laufen lassen?«, fragte ich, denn irgendetwas musste ich sagen. »Man hätte ihn der Polizei übergeben müssen.«
    »Ist doch bloß ein kleiner Dieb«, antwortete er in akkuratem Deutsch mit einem Hauch von schweizerdeutschem Akzent.
    »Er gehört bestimmt zu einer osteuropäischen Diebesbande«, referierte ich, was überall in der Zeitung stand. »Die schicken Minderjährige über die Weihnachtsmärkte, weil sie noch nicht strafmündig sind.«
    »Dann hätte es ohnehin keinen Sinn gehabt, ihn festzuhalten, nicht wahr?«
    »Aber Sie haben ihm sogar noch Geld gegeben!«
    »Er muss doch auch leben.«
    Fast streng hielt sein Blick meinem stand. Und bestimmt schaute ich ihn ungläubig an. »Aber …«
    »Wenn ihr etwas Gutes gebt, soll es den Armen und dem, der unterwegs ist, zukommen«, sagte der Fremde.
    Ich musste unwillkürlich lachen. Was für ein seltsamer Heiliger! Der Spruch klang zwar fromm, aber nicht wie aus meiner Welt. »Und Sie sind nicht zufällig Jesus?«
    Er zog verärgert die Brauen zusammen. Sein Blick ging hinüber zur Auslage bunter Kräuterbonbons, die einen intensiven Geruch nach Eukalyptus, Ingwer und Fenchel verbreiteten. Was hatte ich denn gesagt?, fragte ich mich fieberhaft. Mein Hirn war wie aus Zuckerwatte. Das Einzige, was mir einfiel, war die Verabredung mit meinem Vater. »Ich … ich muss dann mal …«, stammelte ich und hätte viel lieber etwas ganz anderes gestottert, keine Ahnung, was, aber auf jeden Fall etwas, das uns nicht getrennt hätte.
    »Ich muss auch los«, antwortete er. »Hat mich gefreut. Good bye! « Und damit drehte er sich um.
    Ich Ochsenfrosch! Hätte ich nicht etwas sagen können wie: »Wollen Sie nicht mitkommen und mit uns einen Glühwein trinken?«
    Die Lücke, die seine Gestalt ins Gedränge der Weihnachtsmarktbesucher geschlagen hatte, schloss sich. Und schon war der geheimnisvolle Mann in der Menge verschwunden. Doch sein Bild hatte sich in mir eingebrannt. Die dunklen Augen, das schöne und dennoch gar nicht weiche Gesicht überm hochgeschlagenen Mantelkragen. Etwas fröstelig hatte er ausgesehen. Die ganze Zeit hatte er die Hände in den Manteltaschen gehabt. Eine Schneeflocke war ihm auf die Wimpern gefallen und zu einem glitzernden Tropfen geschmolzen.
    Betäubt vom Duft der Bonbons, der sich mit den Düften von Glühwein und Kartoffelpuffern mischte, stolperte ich meines Wegs.
    Auf einmal hatte ich keine Lust mehr auf das Treffen mit meinem Vater und seinen Studenten. Es schien plötzlich alles sinnlos, dunkel und reizlos wie dieser Weihnachtsmarkt unter dem grauschwarzen Himmel, aus dem nasser Schnee fiel und nicht liegen blieb.
    »Finja, da bist du ja!« Mein Vater nahm mich kurz in den Arm, als ich bei den Stehtischen ankam. Die Tische hatten in der Mitte ein Loch, in das man den Abfall schieben konnte. Mülleimertische gewissermaßen. Ich schaute in die rotnasigen Gesichter der sieben oder acht Studenten, die gekommen waren und sich an dampfenden Weingläsern und ihren Zigaretten festhielten. Aber ich sah alles nur wie durch Watte. Ich hatte einen großen Fehler gemacht. Aus Trägheit, aus Feigheit, weil man als Frau Männer nicht zum Glühwein einlud …
    »Was willst du haben?«, fragte mich mein Vater. »Glühwein?«
    »Ja, ja.«
    Einer der Studenten erbot sich und ging.
    »Ist was?«, fragte mein Vater. Er hatte manchmal ein feines Gespür für meine Befindlichkeiten.
    »Nein, es ist nichts, Papa. Mir … mir hat nur eben ein kleiner Taschendieb den Geldbeutel klauen wollen. Ein Passant … hat mir geholfen. Er hat ihn festgehalten und … na ja.«
    »Dann Prost auf den Schrecken!«, sagte mein Vater und hob sein halb leeres Glühweinglas. Der Student hatte mir meines inzwischen gebracht. Alle hoben die Gläser und unterhielten sich noch eine ganze Weile über strafunmündige

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