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Der Hinterhalt

Der Hinterhalt

Titel: Der Hinterhalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Trevor Shane
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Reisetasche. Da ich mich zu Fuß aus dem Staub machen würde, wollte ich so wenig Gepäck wie möglich mitnehmen. Ich holte die Handschuhe aus dem Rucksack und zog sie wieder an. Das Seil, das ich benutzt hatte, um Jim zu erdrosseln, nahm ich ebenfalls heraus. Dann legte ich den Rucksack und die Tasche in der Nähe der Hintertür ab und ging zurück ins Badezimmer, wo Dans Leiche lag. Ich kniete mich neben sie, wobei ich darauf achtete, nicht in das Blut zu treten, das auf den Boden gesickert war, da ich keine verdächtigen Schuhabdrücke hinterlassen durfte. Ich entfernte den Revolver aus Dans Hand und nahm dann seine beiden Hände in meine und umwickelte sie mit dem Seil, mit dem ich seinen besten Freund umgebracht hatte. Ich rieb so lange mit dem Seil, bis es auf seiner Haut sichtbare Verbrennungen hinterlassen hatte. »Tut mir leid, dass ich deinen guten Namen in den Schmutz ziehen muss, aber du lässt mir keine andere Wahl«, sagte ich zu dem, was von Dans Kopf noch übrig war. Ich ging davon aus, dass einige Fasern des Seils und vielleicht sogar etwas von Jims Blut auf Dans Hände gelangt waren und die Verbrennungen erklären würden. Als ich fertig war, platzierte ich den Revolver wieder in Dans Hand. Dann nahm ich das Seil und legte es in die Schublade seines Nachttischs, auf dem die verfänglichen Bierflaschen standen. Anschließend packte ich meine Sachen und lief zur Hintertür hinaus.
    Crystal Ponds bot nicht viel Deckung. Die Palmen und die niedrigen Büsche wären vermutlich nicht einmal für ein Versteckspiel von Zehnjährigen geeignet gewesen. Einem ausgewachsenen Mann boten sie jedenfalls keinen Sichtschutz. Stattdessen huschte ich von Haus zu Haus, ging neben unbeleuchteten Außenwänden in Deckung und achtete darauf, nicht an irgendwelchen Fenstern vorbeizugehen. Schließlich bahnte ich mir den Weg aus dem Viertel zum Highway, neben dem sich ein schmales ausgedörrtes Waldgebiet erstreckte, das mir genug Schutz bieten würde, um unbemerkt aus Crystal Ponds zu verschwinden.
    Ich hoffte, es bis in die Innenstadt zu schaffen, bevor es hell wurde. Dort konnte ich Zuflucht in der Menschenmenge suchen. Vielleicht würde ich sogar einen Ort finden, an dem ich ein paar Stunden bleiben und mich ausruhen konnte. Nur ein paar Stunden, dann wollte ich schnellstens das Weite suchen. Auf dem Weg Richtung Stadtzentrum kam ich an einer brandneuen Eigenheimsiedlung vorbei. Bislang waren nur ein paar Gebäude fertiggestellt, doch vor einem stand ein Schild, das es als »offenes Haus« auswies. Ich beschloss zu überprüfen, ob in der Werbung ein Körnchen Wahrheit steckte, und stellte zu meinem Glück fest, dass die Glasschiebetür auf der Rückseite nicht verschlossen war. Ich schlüpfte hinein. Tagsüber würde ich wesentlich weniger Aufmerksamkeit erregen, wenn ich mit einer Reisetasche herumspazierte, als um vier Uhr morgens.
    Das kleine Musterhaus war vollständig eingerichtet. Im Kühlschrank waren sogar Kekse und Mineralwasser. Ich trank zwei Flaschen aus und warf sie in den Mülleimer unter dem Spülbecken. Ich schaltete kein Licht und keines der Elektrogeräte an, stellte aber den Wecker im Schlafzimmer auf sechs Uhr dreißig. Als ich mich ins Bett legte, war es drei Uhr morgens. Drei Stunden Schlaf hätten mir sicher gutgetan, doch als ich mich hinlegte, war es leider so, als würde man eine Flasche entkorken. All die Emotionen, die ich beim Anblick von Dans zusammengesunken auf dem Boden sitzender Leiche unterdrückt hatte, kamen langsam an die Oberfläche. Allerdings war ich mir nicht sicher, ob ich Wut oder Trauer empfand. Ich wäre gern wütend auf Dan gewesen, wütend, dass er nicht noch einen Tag hatte warten und mich mit einem reinen Gewissen hatte abreisen lassen können. Was ich jedoch empfand, war Trauer, Trauer um diesen armen alten Mann, dem in seinem Leben wirklich alles weggenommen worden war. Was hatte ich nur getan? Zuerst hätte ich in Montreal beinahe einen Zivilisten getötet, und jetzt das. Ich versuchte, an dich zu denken, um auf diese Weise einen klaren Kopf zu bekommen, doch das Bild von Dans zusammengesunkenem leblosem Körper, dessen Blut an den Wänden nach unten rann, tauchte immer wieder vor meinem inneren Auge auf. Ich dachte an die Fotos in seinem Bücherregal, Souvenirs eines Lebens, das fürchterlich schiefgegangen war.
    »Tut mir leid, Dan«, flüsterte ich in die Dunkelheit und hoffte, er könne mich irgendwie hören. Ich schloss die Augen, konnte aber nicht einschlafen.

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