Der Hintermann
sich die Mühe zu machen, erst Gabriel zu fragen. Sie wollte nur die Maße und den Termin wissen. Die Maße waren groß. Der Termin war knapp. Gabriel würde nur zwei Monate Zeit haben. Aber das machte Chiara keine Sorge, ihr Mann hatte einmal einen Tizian in nur wenigen Tagen neu aufgezogen und restauriert. Dagegen waren zwei Monate eine Ewigkeit. Am folgenden Morgen begann Gabriel damit, dass er einen selbst gefertigten Keilrahmen mit weißer Leinwand bespannte. Dann setzte er Chiara an ein Ende des Sofas und arrangierte ihre Arme und Beine wie die einer hölzernen Gliederpuppe, bis sie genau dem Bild in seiner Erinnerung entsprachen. Eine Woche lang machte er nur Skizzen auf Papier. Erst als er mit ihnen zufrieden war, begann er zu malen.
Die Hochsommertage waren sehr lang. Das Porträt verlieh ihnen Struktur und Zweck. Gabriel arbeitete vormittags einige Stunden lang, machte am Mittag eine lange Pause, um zu essen und an den Strand zu gehen, und malte dann wieder bis zum Abendessen. Obwohl ihm das höchst unangenehm war, behielt Schamron ihn ständig im Auge. Auch Chiara beobachtete ihn – aber aus der Ferne. Genau wie sie gehofft hatte, bestätigte der Auftrag sich als Gabriels Rettung. Es gab Leute, die Trauerarbeit leisteten, indem sie mit einem Therapeuten sprachen, während andere sich gedrängt fühlten, darüber zu schreiben. Aber für Gabriel war Öl auf Leinwand schon immer ein heilender Balsam gewesen, genau wie es vor ihm schon bei seiner Mutter gewirkt hatte. An der Staffelei stehend hatte er alles im Griff. Fehler ließen sich mit wenigen Pinselstrichen korrigieren oder mit einer neuen Farbschicht überdecken. Niemand blutete. Keiner starb. Niemand suchte Rache. Es gab nur Schönheit und Wahrheit, wie er selbst sie sah.
Gabriel arbeitete ohne Vorzeichnung und mit einer Palette, welche die Farben widerspiegelte, wie er sie im Leeren Viertel gesehen hatte. Indem er die penible Handwerkskunst der Altmeister mit der Freiheit der Impressionisten verband, entwickelte er einen Stil, der klassisch und modern zugleich war. Er hängte ihr Perlen um den Hals und schmückte ihre Hände mit Gold und Brillanten. Vor ihren nackten Füßen lagen Orchideen. Mehrere Tage lang kämpfte er mit dem Hintergrund. Zuletzt entschied er sich dafür, sie aus einem Dunkel à la Caravaggio aufsteigen zu lassen. Oder versank sie in Wirklichkeit darin? Darüber würden die Proteste auf den Straßen der arabischen Welt entscheiden.
Trotz der anstrengenden Arbeit besserte Gabriels körperliche Verfassung sich merklich. Er nahm zu. Er schlief besser. Die Schmerzen von seiner Verwundung ließen nach. Bald fühlte er sich wieder stark genug, um auf die Klippen zurückzukehren. Er wanderte jeden Tag ein kleines Stück weiter, sodass Schamron nichts anderes übrig blieb, als ihn aus der Ferne zu beobachten. Die Laune des Alten trübte sich ein, während er zusehen musste, wie Gabriel ihm allmählich entglitt. Ihm war bewusst, dass es Zeit wurde, Cornwall zu verlassen. Er wusste nur nicht, wie er den Absprung finden sollte. Chiara versuchte unauffällig, irgendeine Krise zu arrangieren, die seine Rückkehr an den King Saul Boulevard erfordern würde. Als das nicht klappte, blieb ihr nichts anderes übrig, als sich Hilfe suchend an Gilah zu wenden, die Schamrons lange Abwesenheit jedoch zu genießen schien. Widerstrebend bestimmte sie, ihr Mann dürfe nur in Cornwall bleiben, bis das Porträt fertiggestellt sei. Dann müsse er heimkommen.
So beobachtete Schamron mit bösen Vorahnungen, wie Nadia al-Bakari langsam auf der Leinwand zum Leben erwachte. Als ihr Porträt sich der Fertigstellung näherte, arbeitete Gabriel fleißiger denn je. Trotzdem schien er sich innerlich dagegen zu sträuben, die Arbeit abzuschließen. Befallen von einer völlig untypischen Unschlüssigkeit, nahm er unzählige kleine Korrekturen in Form von winzigen Ergänzungen und Übermalungen vor. Schamron genoss insgeheim Gabriels offenkundige Unfähigkeit, das fertige Porträt aus den Händen zu geben. Jeder Tag, an dem Gabriel die Fertigstellung hinausschob, war ein weiterer Tag, den Schamron mit ihm verbringen konnte.
Irgendwann hörten die Nacharbeiten jedoch auf, und Gabriel begann, Frieden mit seinem Werk zu schließen. Nicht nur mit Nadia al-Bakari, sondern mit allem. Schamron sah, wie der Schatten des Todes allmählich von Gabriels Gesicht wich. Und als er Ende August an einem klaren Morgen das provisorische Atelier betrat, sah er dort eine Gestalt, die
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