Der Hintermann
entstellt und in ihren Erinnerungen gefangen in einer psychiatrischen Klinik auf dem Jerusalemer Herzberg. Sie ahnte nur vage, dass Dani nicht weit von ihr auf dem Ölberg beigesetzt worden war.
An diesem Abend erwähnten die Angehörigen von Daniels Team weder Leah noch Dani. Sie sprachen auch nicht lange über die Ereignisse, die dazu geführt hatten, dass Gabriel unfreiwillig Zeuge von Farid Khans Märtyrertod geworden war. Stattdessen sprachen sie von Freunden und Verwandten, von Büchern, die sie gelesen, und Filmen, die sie gesehen hatten, und von den gegenwärtigen erstaunlichen Veränderungen in der arabischen Welt. In Ägypten war der Pharao endlich gestürzt worden und hatte einen Proteststurm ausgelöst, der die Könige und Diktatoren, die im Nahen Osten seit Generationen herrschten, hinwegzufegen drohte. Die Frage, ob der Arabische Frühling Israel mehr Sicherheit oder größere Gefahren bringen würde, wurde im Dienst, aber auch an diesem Esstisch eifrig diskutiert. Jossi, ein geborener Optimist, vertrat die Überzeugung, wenn die Araber Gelegenheit erhielten, in Demokratien zu leben, würden sie nichts mit denen zu tun haben wollen, die Krieg gegen Israel führen wollten. Jaakow, der viele Jahre lang Agenten in feindlichen arabischen Staaten geführt hatte, warf Jossi vor, gefährliche Illusionen zu hegen – eine Auffassung, der sich die meisten anschlossen. Nur Dina wollte sich nicht dazu äußern, weil sie in Gedanken schon bei den Aktenbehältern im Wohnzimmer war. In ihrem klugen Kopf tickte eine Uhr, und sie wusste, dass jede vergeudete Minute bedeutete, dass die Terroristen eine Minute länger planen konnten. Die Unterlagen enthielten das Versprechen geretteter Leben. Sie waren heilige Texte, deren Geheimnisse sie entschlüsseln konnte.
Es war fast Mitternacht, als die Tafel endlich aufgehoben wurde. Nun folgte der übliche Streit um das Geschirrspülen, wer abwaschen und wer abtrocknen sollte. Gabriel beteiligte sich nicht daran, sondern gab Dina eine Einweisung in die Akten, bevor er mit Chiara nach oben ging. Ihr Zimmer lag im zweiten Stock mit Blick auf den Garten hinter dem Haus. In der Ferne blinkten die Warnleuchten auf den Türmen der Georgetown University in sanftem Rot – wie eine Erinnerung an die Verwundbarkeit von Großstädten durch Terrorismus aus der Luft.
»Hier kann man’s ein paar Tage aushalten, denke ich«, sagte Chiara. »Wo hast du Michail und Sarah untergebracht?«
»So weit voneinander entfernt wie nur möglich.«
»Wie groß sind die Chancen, dass dieses Unternehmen sie wieder zusammenbringt?«
»Ungefähr so groß wie für die Anerkennung unseres Existenzrechts durch die Arabische Liga.«
»So schlecht?«
»Ja, leider.« Gabriel legte Chiaras Koffer aufs Fußende ihres Betts, das unter dem Gewicht etwas einsank. »Was hast du da drin?«
»Gilah hat mir ein paar Sachen für dich mitgegeben.«
»Steine?«
»Essen«, sagte Chiara. »Du kennst sie doch. Sie findet schon immer, dass du zu dünn bist.«
»Wie geht es ihr?«
»Seit Ari jetzt nicht mehr so viel zu Hause ist, scheint es ihr besser zu gehen.«
»Hat er sich endlich für den Töpferkurs angemeldet, von dem er immer geredet hat?«
»Tatsächlich ist er wieder am King Saul Boulevard.«
»In welcher Funktion?«
»Uzi dachte, er bräuchte etwas, damit er beschäftigt ist, deshalb hat er ihn zu deinem Einsatzkoordinator bestimmt. Er möchte, dass du ihn morgen früh als Erstes anrufst.« Chiara küsste ihn auf die Wange und lächelte. »Willkommen daheim, Darling.«
16
G EORGETOWN , W ASHINGTON , D.C.
Für Terrornetzwerke gilt eine Binsenweisheit: Eines aufzubauen ist weniger schwierig, als man vielleicht glauben würde. Aber sobald der Chefplaner seinen ersten Anschlag verüben lässt, ist das Überraschungsmoment dahin und das Netzwerk präsent in der öffentlichen Wahrnehmung. In den Anfangsjahren des Kampfs gegen den Terrorismus – als der Schwarze September und Carlos der Schakal von links stehenden nützlichen Euro-Idioten wie der Baader-Meinhof-Bande und den Roten Brigaden unterstützt Amok liefen – setzten Geheimdienste in erster Linie auf physische Überwachung, Abhörmaßnahmen und gute altmodische Ermittlungsarbeit, um die Mitglieder einer Zelle zu identifizieren. Heute, im Zeitalter des Internets und weltweiter Satellitenkommunikation, haben die Umrisse des Gefechtsfelds sich verändert. Für Terroristen hat das Internet sich als wertvolles Werkzeug erwiesen, mit dem sie
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