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Der Hintermann

Der Hintermann

Titel: Der Hintermann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Silva
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Ein hübscher Anblick, sagte er, aber wenig produktiv, wenn Menschenleben auf dem Spiel standen. Irgendwo dort draußen gab es ein Ordnungsprinzip, eine den Terror dirigierende Hand. Raschid al-Husseini, der charismatische Geistliche, hatte das Netzwerk mit seiner Beredsamkeit aufgebaut, aber irgendein anderer hatte es dafür eingesetzt, drei Anschläge in drei europäischen Großstädten zu verüben – jeweils auf die Minute genau durchgeführt. Dieser Mann war kein Amateur, sondern ein professioneller Terrorplaner.
    Dina war wie besessen von der Idee, diesem Ungeheuer einen Namen und ein Gesicht zu geben. Sarah, Chiara und Eli Lavon arbeiteten unermüdlich mit ihr zusammen, während Gabriel sich mit der Rolle eines Botengängers und Kuriers zufriedengab. Zweimal täglich drückte Dina ihm eine dringende Fragenliste in die Hand. Manchmal fuhr Gabriel damit in die israelische Botschaft im Nordwesten Washingtons und übermittelte sie verschlüsselt an Schamron. Oder er gab sie Adrian Carter, der dann nach Fort Meade hinausfuhr, um Erkundigungen bei den Datengräbern einzuziehen. An Halloween, während Kinder als Gespenster, Kobolde oder Superhelden verkleidet durch Georgetown zogen, bestellte Carter Gabriel zu einem Treffen in einen Coffee Shop in der Thirty-fifth Street, um ihm ein dickes Paket mit neuen Unterlagen zu übergeben.
    »Was will Dina damit?«, fragte Carter, während er den Deckel von einem Caffè Americano abnahm, den er gar nicht trinken wollte.
    »Das weiß ich selbst nicht genau«, antwortete Gabriel. »Sie hat ihre eigenen Methoden. Ich versuche nur, sie nicht zu behindern.«
    »Sie ist uns überlegen, wissen Sie das? Unsere Geheimdienste haben zweihundert Analysten auf diesen Fall angesetzt, aber diese einzelne Frau ist uns überlegen.«
    »Das liegt daran, dass sie weiß, was uns bevorsteht, wenn wir diesen Leuten nicht das Handwerk legen. Und sie scheint keinen Schlaf zu brauchen.«
    »Hat sie schon eine Theorie, wer er sein könnte?«
    »Sie hat das Gefühl, ihn zu kennen.«
    »Persönlich?«
    »Bei Dina ist’s immer persönlich, Adrian. Nur deshalb ist sie so gut.«
    Auch wenn Gabriel das nicht zugeben wollte, nahm auch er diesen Fall längst persönlich. War er nicht in der Botschaft oder bei einem Treffen mit Carter, war er meistens in »Raschidistan« anzutreffen, wie das Team die nicht allzu große Bibliothek des Hauses in der N Street nannte. Alle vier Wände waren mit Fotos des telegenen Geistlichen bedeckt. In chronologischer Folge angeordnet bildeten sie seinen unwahrscheinlichen Aufstieg von einem obskuren kleinen Prediger in San Diego zum Führer eines dschihadistischen Terrornetzwerks ab. Äußerlich hatte er sich in diesen Jahren kaum verändert – derselbe spärliche Bart, dieselbe gelehrt wirkende Brille, derselbe gütige Ausdruck in seinen braunen Augen. Er sah keineswegs wie ein Mann aus, der zu Massenmorden imstande war, oder auch nur wie jemand, der dazu aufrufen konnte. Gabriel überraschte das nicht. Er war selbst von Männern mit weiblich zarten Händen gefoltert worden und hatte einen palästinensischen Meisterterroristen mit einem Kindergesicht erschossen. Noch heute, über zwanzig Jahre später, kämpfte er damit, die unschuldig kindlichen Züge des Toten mit dem grausig vielen Blut zu vereinbaren, das an den Händen dieses Mannes geklebt hatte.
    Raschid al-Husseinis größter Vorzug war nicht sein harmloses Aussehen, sondern seine Stimme. Gabriel hörte sich Raschids Predigten – auf Arabisch und in dessem amerikanischen Alltagsenglisch – und die vielen gut durchdachten Interviews an, die er nach dem 11.   September gegeben hatte. Vor allem interessierten ihn die Tonbandaufnahmen von den Vernehmungen, bei denen Raschid sich glänzend gegen die CIA-Agenten behauptet hatte. Raschid war teils Poet, teils Lehrer, teils Erklärer des Dschihad. Er warnte die Amerikaner, dass die demografische Entwicklung entschieden zugunsten ihrer Feinde verlaufe, weil die islamische Welt jung, wachsend und von einer explosiven Mischung aus Zorn und Demütigung erfüllt sei. »Wird nicht etwas getan, um diese Gleichung zu verändern, meine Freunde, geht eine ganze Generation an den Dschihad verloren.« Was die Amerikaner brauchten, sei eine Brücke zur muslimischen Welt – und Raschid al-Husseini erbot sich, diese Rolle zu übernehmen.
    Weil Raschids ständige Gegenwart allen auf die Nerven ging, bestand der Rest des Teams darauf, dass Gabriel die Tür der Bibliothek fest geschlossen

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