Der Hobbknick (German Edition)
Bergfestung und hielt, zunächst wohlig vibrierend in der Nachtluft, Kurs auf die Seestadt.
Und während er schaukelnd segelte, dachte der legendäre Feuerschmetterling nach. »Nun gut, ich fände es zugegeben nicht seltsam, wenn es jemand seltsam fände, dass ich nie auf die Idee gekommen bin, all die gut genährten Seestädter von Seestadt zwischendurch mal aufzufressen! In einem lässig eingeschobenen Vorbeifliegen, so ganz wie der Finsterling, der ich doch bin!« Er runzelte die gewaltige Stirn. »Wenn irgendeiner sowas in einer Geschichte erzählte, würd´s ihm doch niemand glauben! Einhundertundsiebzig Jahre. Und eins. Wohn´ ich in ihrer Nähe. Nicht zu fassen. Ob sich die Weisen wirklich schon über mein Verhalten gewundert haben? Wundern würd´s mich nicht!«
Und nach einer weiteren, träge durchflogenen Wegstrecke grübelte er: »Komm´ ich eigentlich in den Annalen vor? Und wie werden die Geschichtsschreiber mich später darstellen?«
Solcherlei fragte sich der Monströse, während er über die im Nachtdunkel liegende verdorrte Heide hinwegflog, nicht zirkulierend, sondern einen einigermaßen strammen Nordwestnordkurs einhaltend: denn nach leichtfertigen Mätzchen stand ihm nicht der Sinn. Und doch streckte sich der Flug ein bisschen, und Shnaub, obzwar er es gern vermieden hätte, verfiel in weiteres grüblerisches Sinnen. Und plötzlich meinte er, stimmengleich, Worte zu vernehmen, die durch seinen Riesenkopf hallten, Sätze, die er irgendwann einmal gehört hatte: ›Nur in der Jugend ist man elanvoll und optimistisch.‹ Wer hatte diese Worte dereinst gesprochen? In einer lang verschollenen Vergangenheit musste es gewesen sein.
Shnaub fühlte eine Verwirrtheit sich seiner bemächtigen. Des Ungeheuers Sinne schienen zu schwinden, und es schwindelte und fröstelte ihn, er suchte nach Fragen, die Antworten hervorrufen könnten. Begriffe tanzten durch seinen ermatteten Geist: Elan und Optimismus. Froher Mut und Tatendrang. Und ängstlich horchte Shnaub in sich hinein, und er fand nichts mehr von all dem in seinem Innersten, ja, er fand sogar nichts von allem . In seiner Jugend, da war er jung gewesen – wie fast alle in ihrer Jugend – und stark obendrein. Und später war er alt und noch stärker geworden. Doch nun spürte Shnaub: er war nur noch alt! Seine Flügel begannen schwach im Westwind zu zittern. Er hatte so lange auf seinem Gold(- und Tand)bett gelegen, dass er gar nicht bemerkt hatte, wie ihm das Zipperlein in die Knochen gekrochen und die Hoffnung aus dem Herzen gestoben war. Er hatte sich so lang an den bösen Taten seiner frühen Jahre ergötzt, dass er übers Ergötzen nicht erkannt hatte: sein Durst auf erneute Unbill war schon lange gelöscht. Zwar hatte er über ein Comeback nachgedacht, vor wenigen Augenblicken erst, doch jetzt fühlte er nichts als Nichtigkeit. Aus seiner verkrusteten Haut löste sich ein Stück Tand, das seufzend hinabfiel.
So erreichte Shnaub das Südufer des Echt Langen Sees, und der Schein seines goldenen Schimmers war noch nicht erloschen, und die dunkle Wasseroberfläche drunten reflektierte ihn, und der Monströse schaute müde hinab.
»Das arme Wasser!«, dachte er. »Jetzt schimmert es kurz auf, in meinem flüchtigen Schein. Doch wie viele Jahre schwappte es im Nachtdunkel allein vor sich hin, ungesehen und ungehört? Und die armen Fische unter seiner Oberfläche! Nie sieht sie einer, und keiner bewundert sie, bis sie gefangen und verschlungen werden.«
Shnaubs Kopf wandte sich nach rechts, zum stumm dahingleitenden Ufer. »Wie traurig es da liegt«, dachte er betroffen. Die Bäume waren dunkle Silhouetten. »Alles abgestorben! Kein lauschiges Uferplätzchen, an dem sich Verliebte niederlassen könnten. Mein lieber Herr Eydu! Was für eine trostlose Bucht da drüben, wo Leichen von Rucksäckchen zu schwimmen scheinen!«
Dann fiel ihm ein, dass die Bäume verdorrt waren wegen des Feuers, das er, Shnaub, einst über sie gebracht hatte, und dass es keine Verliebten mehr gab in diesen Landstrichen, weil er, Shnaub, diejenigen verschlungen hatte, deren Liebe jene hätte hervorbringen können, die nun Liebe spüren könnten. An einem Seeufer, das, wäre es nicht lang zuvor zerstört worden, eine angemessene Umgebung für inbrünstige Küsse hätte sein mögen…
Und ohne dass Shnaub es bemerkte, fing er an zu weinen. Er hatte wohl vergessen, dass die Großen Feuerschmetterlinge nicht weinen dürfen: denn wenn sie weinen, dann werden sie kleiner und
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