Der Hof (German Edition)
zumindest bei Jean-Claude.»
Das ist ungefähr das, was sein Bruder mir bereits erzählt hat, aber es aus ihrem Mund zu hören, hat für mich irgendwie mehr Gewicht. «Jean-Claude glaubt …»
«Ich weiß, was Jean-Claude glaubt.» Mathilde hebt den Kopf und sieht mich an. Ihre grauen Augen sind ruhig und traurig. «Mein Vater hat Louis nicht umgebracht. Wenn überhaupt jemand die Schuld trägt, dann ich. Er war nicht sehr glücklich, als er von meiner Schwangerschaft erfuhr, und als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, haben wir uns gestritten. Ohne den Streit wäre vielleicht manches anders verlaufen.»
«Du darfst dir deshalb keine Vorwürfe machen. Vielleicht, wenn dein Vater mit Jean-Claude redet …»
«Nein.» Sie schüttelt den Kopf. «Mein Vater ist ein stolzer Mann. Er wird seine Meinung nicht ändern.»
«Könntest du nicht selbst mit Jean-Claude reden?»
«Das würde nichts bringen. Er glaubt, wir wären für Louis’ Verschwinden verantwortlich. Es ist egal, was ich sage.» Mathilde widmet ihre Aufmerksamkeit wieder den Fäden. Das Gespräch ist für sie beendet. Sie lässt den nächsten Faden auf das Tellerchen fallen und richtet meinen Fuß neu aus. Ich kann durch das Handtuch die Wärme ihres Körpers spüren. «Nur noch einer.»
Bei dem letzten Faden verspüre ich ein leichtes Stechen. Sie legt die Pinzette auf das Tellerchen und tupft ein Antiseptikum auf die Löcher. Ohne die Fäden sieht der Fuß irgendwie unfertig aus. Wie ein aufgeschnürter Schuh.
«Wie fühlt sich das an?», fragt sie.
«Nicht schlecht.»
Mein Fuß ruht immer noch auf ihrem Schoß. Ihre Hände ruhen auf ihm, und ich bin mir plötzlich sehr deutlich der Berührung bewusst. Ihre Finger fühlen sich auf meiner nackten Haut an wie elektrische Ladung. Anhand der Röte, die ihren Hals überzieht, vermute ich, dass sie sich dessen auch bewusst ist.
«Mathilde, Michel hört einfach nicht auf zu schreien!»
Gretchens Ruf kommt von unten. Sie klingt gereizt und fordernd. Mathilde stellt meinen Fuß auf den Boden und steht rasch auf. Der Moment ist verflogen.
«Ich komme!», ruft sie. Die Müdigkeit steht ihr wieder ins Gesicht geschrieben, als sie die Pinzette und das Tellerchen nimmt. «Der Fuß wird noch ein, zwei Tage empfindlich sein, wo vorher die Nähte waren. Du solltest weiter vorsichtig sein.»
«Das werde ich. Danke», sage ich. Aber sie ist schon gegangen.
Als ich aufstehe, bemerke ich in dem fleckigen Badezimmerspiegel über dem Waschbecken mein Spiegelbild. Mein Gesicht ist schmaler, als ich es in Erinnerung habe. Es ist sonnenverbrannt und pellt sich, und weiße Linien gehen strahlenförmig von den Augenwinkeln ab, weil ich die Augen im Licht immer zusammenkneife. Der Bart macht die Verwandlung perfekt: Ich sehe nicht mehr aus wie ich.
Ich starre einen Fremden an. Dann reiße ich mich los und gehe nach unten.
Es fühlt sich komisch an, wieder einen Schuh an meinem verletzten Fuß zu tragen. Die Blutflecke auf dem Leder haben mehreren Versuchen widerstanden, sie wegzuschrubben, und zwei Bögen aus Löchern sind auf beiden Seiten. Ich werde also doch ein neues Paar Schuhe brauchen. Im Moment genügt es mir aber, nach unten zu sehen und zwei Füße zu haben, die mehr oder weniger symmetrisch aussehen.
Allerdings verfliegt das Gefühl des Neuen rasch wieder. Ich beginne schon bald zu vergessen, wie es sich angefühlt hat, als mein Fuß verbunden in dem Gummischuh steckte. Ich habe das merkwürdige Gefühl, langsam kehre alles wieder zu dem Ausgangspunkt zurück, bevor ich damals in das Fangeisen geriet. Als versuche mein Lebensfaden, wieder dort anzuknüpfen, wo ich ihn fallen gelassen habe.
Mein Gehstock ist vermutlich inzwischen eher eine psychologische Krücke und nicht so sehr eine körperliche, aber darüber denke ich lieber nicht nach. Sobald mein Fuß sich vollständig erholt hat, gibt es für mich keinen plausiblen Grund, länger zu bleiben. Und dafür bin ich nicht bereit.
Noch nicht.
Ich gehe wieder hinauf zu meinem gewohnten Aussichtspunkt auf dem Felsvorsprung und setze mich an die Kastanie. Der See liegt ruhig da, zu dieser Tageszeit wird die Wasseroberfläche nicht mal von Enten durchpflügt. Aber auch hier ist die Veränderung schon spürbar. Das Jahr ist vorangeschritten, ohne dass ich es bemerkt habe. Die Blätter an den umstehenden Bäumen haben einen dunkleren Grünton angenommen, und obwohl es immer noch heiß ist, scheint das Sonnenlicht irgendwie schärfer zu sein. Ich reibe
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