Der Hof (German Edition)
zurück zu dem Feldweg und erwarte halb, Arnaud dort mit seinem Gewehr auftauchen zu sehen. Aber der Wald ist leer. Ich fühle mich unbehaglich, obwohl ich nicht ganz sicher bin, ob die Warnung ihres Vaters der Grund ist oder Gretchens Nähe. Abgesehen von den Enten und Gänsen scheinen wir die einzigen Lebewesen weit und breit zu sein.
Gretchen seufzt theatralisch. Sie packt den vorderen Saum ihres Kleids und wedelt damit auf und ab.
«Es ist einfach zu heiß», sagt sie und wirft mir einen prüfenden Seitenblick zu. «Ich dachte, am See ist es vielleicht kühler.»
Ich halte den Blick starr auf den See gerichtet. «Bist du schon mal im See geschwommen?»
Gretchen hört auf, sich frische Luft zuzufächeln. «Nein. Papa sagt, es ist nicht sicher. Außerdem kann ich gar nicht schwimmen.»
Sie beginnt, die winzigen gelben Blumen zu pflücken, die im Gras blühen. Schnell entsteht eine Blumenkette. Die Stille scheint ihr nichts auszumachen, obwohl ich von mir nicht dasselbe behaupten kann. Plötzlich wird die Stille von demselben Schrei durchschnitten, den ich gestern Nacht gehört habe. Er kommt aus dem Wald hinter uns. Am helllichten Tag ist er nicht annähernd so beunruhigend, doch klingt er nicht weniger gequält.
«Was war das?», frage ich und starre in den Wald.
Weder Gretchen noch Michel wirkt sonderlich besorgt. Sogar der Hund stellt nur kurz die Ohren auf, ehe er weiter an seinem Stein nagt. «Das sind bloß die Sanglochons.»
«Die was?» Ich erinnere mich, den Begriff schon einmal von ihr gehört zu haben, aber damals habe ich mir nichts dabei gedacht.
«Sanglochons», wiederholt sie ungeduldig, als wäre ich ein Idiot. «Das ist eine Kreuzung zwischen Wildschweinen und Hausschweinen. Papa züchtet sie, aber sie stinken so widerlich, dass wir sie im Wald halten. Sie zanken sich immer, wenn es was zu fressen gibt.»
Ich bin erleichtert, dass das alles ist. «Dann ist das hier ein Schweinemastbetrieb?»
«Nein, natürlich nicht!», erwidert Gretchen und mustert mich tadelnd. «Die Sanglochons sind nur Papas Hobby. Und das hier ist kein Bauernhof. Es ist ein Château. Uns gehören der See und der ganze umliegende Wald. Wir besitzen fast hundert Hektar Kastanien, die wir jeden Herbst ernten.»
Sie klingt stolz, woraus ich schließe, dass das ziemlich viele Kastanien sein müssen. «Wie ich gesehen habe, keltert ihr auch euren eigenen Wein.»
«Das haben wir mal. Papa wollte ihn
Château Arnaud
nennen. Er hat ein paar Weinstöcke zu einem guten Preis bekommen und unsere Gemüsebeete umgegraben. Aber die Reben waren nicht robust genug für unseren Boden. Sie bekamen eine Art Braunfäule, weshalb es nur eine Lese gab. Wir haben immer noch Hunderte Flaschen davon, und Papa meint, wir werden sie bestimmt eines Tages verkaufen können, wenn er erst gereift ist.»
Ich denke an die säuerlich riechenden Flaschen in der Scheune und hoffe, dass sie nicht vorhaben, das Zeug in naher Zukunft zu verkaufen. Gretchen pflückt noch eine Blume und flicht sie in den Blumenkranz ein. Dann schaut sie zu mir hoch.
«Sie reden nicht gerne über sich, kann das sein?»
«Da gibt’s ja auch nicht viel zu sagen.»
«Das glaube ich Ihnen nicht. Sie versuchen nur, geheimnisvoll zu tun.» Sie schenkt mir ein Lächeln, bei dem ihre Grübchen aufblitzen. «Kommen Sie schon, erzählen Sie. Woher kommen Sie?»
«England.»
Sie versetzt meinem Arm einen spielerischen Klaps. «Ich meine, woher genau?»
«Ich habe zuletzt in London gelebt.»
«Was haben Sie da gemacht? Womit haben Sie Ihr Geld verdient?»
«Nichts Dauerhaftes. In Bars gejobbt, auf Baustellen …» Ich zucke mit den Schultern. «Ich habe als Englischlehrer gearbeitet.»
Kein Donnergrollen, und die Erde tut sich auch nicht auf. Gretchen pflückt ungerührt die nächste Blume und scheint eine weitere Frage stellen zu wollen, aber der Hund wählt ausgerechnet diesen Moment, um den Stein, auf dem er herumgekaut hat, in meinen Schoß fallen zu lassen.
«Na, vielen Dank.»
Vorsichtig hebe ich die mit Hundesabber überzogene Gabe hoch und werfe sie weg. Der Hund schießt den Steilhang hinunter und kommt verwirrt zum Stehen, als der Stein ins Wasser klatscht. Er starrt mich herzerweichend an.
Gretchen lacht. «Sie ist so dumm!»
Ich finde noch einen Stein und rufe den Hund. Er ist immer noch vom Verlust des ersten Steins abgelenkt, der offensichtlich sein liebster war. Aber als ich den Ersatz Richtung Bäume werfe, bekommt er das sofort mit und schießt
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