Der Hof (German Edition)
förmlich entgegen. Wenn das ganze Haus in diesem Zustand ist, ist es ein Wunder, dass es noch steht.
Plötzlich bin ich überzeugt, einen Fehler zu machen. Ich weiß, wie man Mörtel mischt, und habe mich auch schon mal daran versucht, etwas zu mauern. Das ist aber schon Jahre her. Die wenigen Monate, die ich als Arbeiter auf einer Baustelle verbracht habe, haben mich wohl kaum für eine Aufgabe wie diese vorbereitet.
Ohne auf meine Füße zu schauen, mache ich einen Schritt nach hinten. Dabei stößt meine Krücke an einen der Steine, die auf den Bohlen liegen. Ich stolpere gegen die horizontalen Verstrebungen des Gerüsts, die die Brüstung bilden, und für einen Moment hänge ich im Leeren, mit nichts zwischen mir und dem Hof in zehn Metern Tiefe. Dann reiße ich mich zurück und bringe den Turm dazu, protestierend zu schwanken und zu quietschen.
Langsam nur lässt die Bewegung nach. Ich lege meinen Kopf gegen den Pfeiler.
«Was ist passiert?»
Ich schaue nach unten. Gretchen ist aus dem Haus gekommen und steht mit Michel auf dem Arm im Hof.
«Nichts. Ich … überprüfe nur das Gerüst.»
Sie beschattet die Augen mit einer Hand und legt den Kopf in den Nacken, um zu mir aufzublicken. «Es klang eher so, als würde es gleich zusammenkrachen.»
Ich wische meine feuchten Handflächen an der Jeans ab. «Noch nicht.»
Sie lächelt. Sie hat seit dem Nachmittag, als ich ihr erzählte, dass ich fortwollte, kaum mit mir gesprochen. Aber inzwischen hat sie wohl beschlossen, mir zu verzeihen. Ich warte, bis sie wieder im Haus verschwunden ist. Dann setze ich mich mit weichen Knien auf die Bohlen.
Himmel, was habe ich hier zu suchen?
Seit Mathilde mir den Job angeboten hat, sind zwei Tage vergangen. Anfangs war ich einfach nur zufrieden, mich ausruhen zu können und wieder zu Kräften zu kommen. Zusätzlich gefördert wurde meine Rekonvaleszenz durch die Erleichterung, einen unerwarteten Rückzugsort gefunden zu haben. Den gestrigen Tag verbrachte ich zum größten Teil unten am See, wo ich halbherzig den Versuch unternahm, unter der alten Kastanie auf dem Steilhang
Madame Bovary
zu lesen. Manchmal konnte ich sogar den Grund vergessen, warum ich hier war. Dann wurde ich wieder daran erinnert, und es fühlte sich an, als würde ich fallen. Schon bald nagten die Gedanken wieder an mir. Gestern Nacht war es am schlimmsten gewesen. Bei den seltenen Gelegenheiten, wenn ich in den Schlaf glitt, wachte ich sofort keuchend und mit rasendem Herzen auf. Als ich an diesem Morgen sah, wie es hinter dem kleinen Fenster auf dem Dachboden erst grau und dann hell wurde, wusste ich, dass ich nicht einen weiteren tatenlosen Tag ertragen würde.
Ich hatte gehofft, körperliche Arbeit könnte helfen. Jetzt bin ich hier oben, und allein das Ausmaß der Aufgabe flößt mir gehörigen Respekt ein. Ich habe keine Ahnung, wo ich anfangen soll.
Komm schon, du schaffst das. Es ist nur eine Wand.
Ich stehe auf und stelle mich dem Haus. Ein Stück weiter sind zwei Schlafzimmerfenster. Das eine ist hinter Holzfensterläden verborgen, aber beim anderen kann ich hinter der staubigen Scheibe den leeren Raum erkennen. Nackte Dielenbretter und abblätternde Tapeten, ein alter Schrank und ein eisernes Bettgestell mit einer gestreiften Matratze, mehr ist da nicht. An der gegenüberliegenden Wand steht eine Kommode und darauf ein gerahmtes Foto. Es sieht wie ein Hochzeitsfoto aus – der Mann trägt einen dunklen Anzug, die Frau ist ganz in Weiß. Es ist zu weit weg, um irgendwelche Details zu erkennen, aber ich vermute, es wird sich um Arnaud und seine Frau handeln. Es scheint das richtige Jahrzehnt zu sein, und ich würde nichts anderes von ihm erwarten, als dass er sein Hochzeitsfoto in einem unbenutzten Zimmer wegschließt.
Diesmal achte ich darauf, wohin ich die Krücke setze, schlurfe über das Gerüst und schaue um die Ecke auf die Stirnseite des Hauses. Hier sieht alles ebenso unfertig aus wie an der Vorderseite. Als wäre jemand bei der Arbeit gestört worden. Auf halber Strecke steht auf einer zusammengefalteten Boulevardzeitung eine große Tasse. Darin auf einem braunen, angetrockneten Kaffeerest eine tote Fliege. Die Zeitung ist brüchig wie Pergament, als ich sie hochhebe. Das Datum liegt achtzehn Monate zurück. Ich frage mich, ob irgendwer hier oben gewesen ist, seit der unbekannte Bauarbeiter seinen Kaffeebecher geleert und ihn auf die Zeitung gestellt hatte, ehe er für immer verschwand. Vielleicht war das gar nicht so dumm von
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