Der Hügel des Windes
Dorfarzt, hielten sich für die größten Schlaumeier in ganz Spillace, dabei hatten sie Verstand nur als Hülle und Dummheit in Fülle.
Sofia war es, die dieses Gerede aufschnappte, das, so keifte sie, weder Hand noch Fuß noch sonst was hatte, und sie zankte pausenlos mit Nachbarinnen und Verwandtschaft, stritt alles ab und ereiferte sich, wenn nötig, mit hexenhafter Bosheit: »Was sein muss, muss sein«, rechtfertigte sie sich am Ende, während ihr Kropf auf und ab sprang wie eine fliehende Kröte. Die Einzige in der Familie, von der sie Schützenhilfe bekam, war Ninabella, bissig wie die Großmutter und immer bereit, ihre Krallen auszufahren und ihre messerspitze Zunge einzusetzen. Lina und ihr Sohn versuchten die beiden zu beruhigen und ins Haus zu ziehen; der Alte wiederum nutzte seine Hörschwäche, indem er vorgab, nichtsmitzubekommen, und wenn doch, fegte er den Schmutz der Leute und die heftige Reaktion seiner Frau mit ironischem Lächeln vom Tisch: »Die wirklich schlimmen Sachen im Leben sind ganz andere, nicht wahr, Arturì?«
Michelangelo nickte, ernsthaft wie der echte Arturo. Das dumme Geschwätz im Dorf ließ ihn kalt, er hatte gerade ganz andere Sorgen.
In wenigen Tagen sollte er mit der neuen Schule beginnen, und die Antwort von Paolo Orsi ließ immer noch auf sich warten.
Wie versprochen hatte der Herr Lehrer Tavella die bürokratischen und organisatorischen Mühen auf sich genommen und Michelangelo am Lehramtsinstitut in Catanzaro eingeschrieben sowie ihm ein Zimmer zum Vorzugspreis bei einem befreundeten Ehepaar besorgt. Außerdem plante er, ihn am Tag vor Schulbeginn persönlich in die Stadt zu begleiten. Am Bahnhof von Cirò würden sie in den Zug steigen.
Michelangelo verbrachte die Wartezeit bei seinem Großvater, schweigend saßen sie auf dem Mäuerchen in der Gasse, verjagten mit der Hand die Fliegen und genossen die Schwaden kühlerer Luft, die von den Felshängen herüberwehten. Für einen Spaziergang zur Piazza war es zu heiß.
Als der Moment der Abreise gekommen war, trennten sich die Mutter und die Nonna unter heftigem, verzweifeltem Weinen von Michelangelo, als zöge er in den Krieg.
Der Großvater weinte nicht, doch bei der Umarmung sagte er mit der gebrochenen Stimme eines Todkranken: »Arturì, wer weiß, ob wir uns wiedersehen, wenn du heimkommst.«
Ninabella versuchte die Situation zu entschärfen: »Nonno, beklag dich nicht immer, du wirst so alt wie eine Eiche. Und denk dran: Das ist nicht Arturì, sondern Michelangelo.« Dann sagte sie, an den Bruder gewandt: »Du Glücklicher, dass du diesem Tollhaus den Rücken kehrst.«
17
In den ersten Monaten in Catanzaro verließ Michelangelo das Haus nur, um zur De-Nobili-Schule zu gehen, eine Viertelstunde fast stetig bergauf durch das Viertel der sogenannten Baracken. Nach der Schule kehrte er in sein Zimmer zurück, aß eine Suppe oder einen Teller Nudeln, den die Vermieterin für ihn bereitete, um dann stundenlang Seite um Seite auswendig zu lernen, wie es die Lehrer verlangten. Verstehen war nicht gefragt, nur Aufsagen können, und dank seines Elefantengedächtnisses gehörte er zu den besten Schülern, bekam in fast allen Fächern gute Noten, vor allem in Geschichte und Geographie, in Italienisch und den Naturwissenschaften. Abends aß er allein. Um zu sparen, da die Miete schon 120 Lire im Monat kostete, schickten sie ihm von zu Hause Pakete mit Brot, Salami, Presswurst, Käse, getrockneten oder gebackenen Feigen und manchmal einem Glas eingelegter Sardinen. Dann streckte er sich auf dem Bett aus und lernte weiter, bis er schließlich im Schein der Kerze einschlief.
Am nächsten Morgen im Unterricht war er ausgeruht und konzentriert. Seine Mitschüler beneideten ihn um seinen Fleiß, den er Tag für Tag bewies, und hofierten ihn unverhohlen, um die Hausaufgaben und Klassenarbeiten bei ihm abschreiben zu dürfen. Die Lehrer schätzten ihn und lobten ihn als Vorbild für alle, außer zwei fanatischenFaschisten, die ihn in die Mangel nahmen, seit sie erfahren hatten, dass sein Vater in politischer Verbannung lebte. »Mit unserer Hilfe«, sagten sie zu ihm, »wirst du auf den rechten Pfad zurückkehren, den dein ruchloser Vater verlassen hat, als er unseren Duce beleidigte.« Michelangelo hätte sich am liebsten auf sie geworfen und sie mit einer Kopfnuss umgehauen. Passt auf, was ihr über meinen Vater sagt, dachte er, er hat nichts Böses getan, die Schuld liegt bei Don Lico, der genauso ein Gehörnter ist wie ihr.
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