Der Hügel des Windes
Michelangelo. Mit dem Finger auf den Lippen erstickte er alle Dankesworte oder Bitten um Erklärung. Dann verabschiedeten sie sich mit einer bewegten, stummen Umarmung wie zwischen alten Freunden, die wissen, dass sie sich niemals wiedersehen.
20
Philoktetes war der berühmteste Bogenschütze aller Zeiten. Er konnte einen Pfeil durch die aufgereihten Ringe von gut zwölf Äxten schnellen lassen. Pfeil und Bogen hatte er als Geschenk von Herakles erhalten, dem mythischen Herakles der zwölf Mühen, deshalb trafen sie immer ihr Ziel. Er liebte die Schönheit mehr als alles, und auch er hatte sich in Helena verliebt, die faszinierendste Frau der Welt. Leider hatte sie ihn zurückgewiesen, weshalb er beschloss, mit sieben Schiffen und fünfzig Bogenschützen in den Trojanischen Krieg zu ziehen. Doch dann geschah es, dass er bei einem Aufenthalt an Land von einer giftigen Schlange gebissen wurde. Auf der Weiterreise begann die Wunde derart zu stinken, die Schmerzen wurden so grausam und seine Schreie so unmenschlich, dass Odysseus und Agamemnon, zu Unrecht, anordneten, ihn auf einer kleinen, unbewohnten Insel auszusetzen. Dank seinem Bogen und der Pfeile, mit denen er sich Vögel erjagte, konnte Philoktetes zehn Jahre überleben. Die Wunde jedoch verheilte nicht, die Schmerzen und die fruchtlosen Schreie wollten nicht enden. Bis Odysseus von einem Orakel erfuhr, dass nur der Bogen und die Pfeile des Herakles den Krieg gewinnen konnten. Also holte der Meister der Listen Philoktetes nach Troja zurück und brachte ihn wie versprochen zu einem berühmten Arzt, der ihm das faulende Fleisch herausschnitt, es mit Wein desinfizierte und mit wundersamen Kräuterauflagen heilte. Endlich wieder gesund,tötete Philoktetes im Duell den Paris und gab dem Krieg damit die entscheidende Wendung zugunsten der Griechen.
Das Beeindruckende an Philoktetes waren jedoch nicht sein Heldentum, die Siege auf dem Schlachtfeld, der Mythos, der ihn umwehte wie eine warme Brise. Nein, es war der zehn Jahre lang ertragene Schmerz, ohne jemanden, der ihn zu trösten vermochte, außer den Verwandten, die ihm im Traum erschienen. Es war die hässliche Fratze der Einsamkeit, die durch das von seinen Reisegefährten zugefügte Unrecht noch bitterer wurde und die er nicht überwinden konnte. Wie der Vater Arturo, schloss Michelangelo, als er Ninabella die Geschichte erzählte. Wie alle gerechten Männer, die von den Mächtigen isoliert und ihres kostbarsten Gutes beraubt werden: der Freiheit.
Das Unrecht kann man bekämpfen, die Einsamkeit aber ist eine heimtückische Krankheit, die nicht leicht heilt. Um nach dem Trojanischen Krieg von ihr zu genesen, gründete Philoktetes die Stadt Makalla, vielleicht Petelia, das heutige Strongoli, Chone, das heutige Cirò, und Krimisa, vielleicht der heutige Rossarco im Hinterland von Marina. Und immer wählte er Orte von betörendem Duft, er, der zehn Jahre lang den fauligen Todesodem geatmet hatte.
»Wer hat dir das alles erzählt?«, fragte Ninabella den Bruder.
»Zum Teil habe ich es in der Schule gelernt. Von Philoktetes erzählen Homer, Sophokles, der ihm eine Tragödie gewidmet hat, Strabon und viele andere. Zum Teil habe ich sie mir selbst ausgedacht, und vielleicht sind meine Geschichten wahrer als die der antiken Dichter, die sie häufig auch selbst erfanden.«
Es kam selten vor, dass Michelangelo mit seinem Wissenund seinen schulischen Leistungen prahlte. Und Ninabella las des Bruders Bescheidenheit an der Natürlichkeit seiner Stimme und seinem Blick ab. Dennoch beneidete sie ihn und sagte aufrichtig: »Ich bewundere dich für all die Dinge, die du weißt. Ich kann es kaum erwarten, selbst alles zu lernen, wenn ich auf die höhere Schule gehe.«
Ninabella war die Einzige ihrer Klasse, die nach den fünf Grundschuljahren weiter zur Schule gehen wollte, obwohl ihr alle davon abrieten, ihre Freundinnen, Verwandten, Mutter und Großmutter: »Ein anständiges Mädchen bleibt zu Hause und bereitet ihre Aussteuer vor und heiratet einen tüchtigen jungen Mann aus dem Dorf, wenn es so weit ist.« Nicht einmal ihre Lehrerin unterstützte sie, doch aus anderen Gründen: Sie sagte, Ninabella sei eine geborene Rebellin, die nicht über den Büchern brüten wolle, keinen blassen Schimmer von Mathematik habe, in Italienisch eher mittelmäßig sei, alles, was sie könne, sei zeichnen, ein Geschenk des Himmels, das ihr keinerlei Mühe abverlange. »Meiner Meinung nach wirst du nicht einmal die Eingangsprüfung
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