Der Hügel des Windes
auf der Punta Alice, umrahmt von Eukalyptusbäumen, die der Vater gepflanzt hatte, die Hügel, die sich wie runde Treppenstufen bis nach Spillace hinaufarbeiteten, die blauen Berge des Sila-Gebirges, den Himmel mit seinen am Horizont kreisenden Möwen und Schwalben.
Mit den Jahren häuften sich in der Casella hinter den Heuballen die Leinwände an. Ninabella betrachtete sie als Fingerübungen, nie war sie zufrieden, während ihre Familie ganz verzaubert war und die Mutter manchmal eine Leinwand nahm, sie vom Schreiner gegen einen doppelten Liter Wein oder Öl rahmen ließ und sie an den Wänden von Küche oder Schlafzimmer aufhängte. »Wie bei feinen Leuten haben wir es jetzt, nicht mal Don Lico hat so schöne Bilder«, sagte sie stolzerfüllt.
Ninabella stieg das nicht zu Kopf, weder zu Hause noch bei den Freundinnen von früher, die aus ihrem Neid keinen Hehl machten, nicht so sehr um ihr Talent als Malerin, sondern um ihr freies Leben in der Stadt. Sie lachte und erzählte ihnen tuschelnd von den Studenten in Catanzaro, so sauber, duftend und elegant, viele von ihnen Anwalts- und Arztsöhne,allesamt strotzend vor Geld, Gesundheit und gutem Aussehen, die bestaussehenden von ganz Kalabrien, fand sie.
»Los, erzähl schon, erzähl, hat sich schon einer erklärt, bist du verliebt, wie heißt denn der Glückliche?«, fragten sie, während sie die Kissenbezüge ihrer Aussteuer mit blauen Blümchen und ihren Initialen bestickten.
»Der muss erst noch geboren werden, in den ich mich verliebe. Die Männer sind doch beinahe alle gleich abscheulich, die wollen nur das Eine von dir«, erwiderte sie verächtlich, und dann rollte ihr das Lachen wieder in unbändigen, ansteckenden Kaskaden zwischen den blendend weißen Zähnen hervor. Und wenn die Freundinnen sich zufrieden zeigten, die Wangen müde vom vielen Gelächter, starrte Ninabella mit abwesendem, fernem Blick auf die Kissenblüten. Als blicke sie schon damals über die engen Grenzen von Spillace und Catanzaro hinaus auf die weite Welt, von der sie träumte.
Traum
Der Traum bestand nur aus einem einzigen Bild, ähnlich denen, die Ninabella in knallbunten Farben malte: der Hügel aus der Höhe wie von einem fliegenden Drachen herab betrachtet, eine prächtige, mit purpurroten Flecken übersäte Insel, im Westen gesäumt vom Meer und im Osten vom Flussbett einer Fiumara mit glitzernden Steinen und rötlich reflektierenden Rinnsalen.
Die Augen meines Vaters bestaunten die Szenerie durch das silbrig schimmernde Grün des großen Olivenbaums. Es war weniger wie ein Traum als wie die Projektion eines Farbdias, unbeseeltes Licht auf dunkler Wand, wäre da nicht dieser aufsteigende Duft in der Luft gewesen. Die Orte werden auch durch ihren Duft lebendig, sagte mein Vater. Und durch den Wind natürlich, der ihrer Wahrheit eine Stimme verleiht.
Der Wind blies auch im Traum kräftig, so dass der Drache an Höhe verlor und im Sturzflug herabschoss. Und je näher er dem Hügel kam, desto größer wurde er, wurde ein mächtiger Adler, ein Doppeldecker, ein Flugzeug mit riesiger Schnauze, eine bedrohliche Fratze wenige Meter über dem Boden.
Mein Vater erwachte kurz vor dem Aufschlag mit dem Gefühl, eine ähnliche Szene schon einmal in Wirklichkeit gesehen zu haben, an einem Novembertag 1941. Noch ganz benommen von dem Duft, öffnete er die kleine Tür der Casellaund sah den großen Olivenbaum an angestammter Stelle und die Wipfel der Steineichen, die in der strahlenden Morgensonne flimmerten. Ein Wunder hatte den Rossarco gerettet, schloss mein Vater.
»Nicht einmal im Schlaf kommst du von dem Hügel los«, sagte ich lächelnd zu ihm.
»In unseren Träumen verbirgt sich die Wahrheit, der du nicht entfliehen kannst, auch wenn du sie nicht ganz durchschaust«, erwiderte er ernst.
Ich dachte zurück an seine Freunde aus Spillace, die mich am Morgen in der Bar Roma auf einen Kaffee eingeladen und wieder mal wegen meines Vaters gestichelt hatten, wegen seines selbstgewählten Exils, das sie nicht verstanden: »Er sah müde aus, mit so einem besessenen Blick, als er das letzte Mal nach Spillace kam, um Zigaretten und Nudeln zu kaufen. Ist er vielleicht krank? Warum bringst du ihn nicht zu einem Spezialisten bei dir da oben im Trentino?« Und dann dachte ich an das letzte Telefonat mit Simona: »Du musst ihn davon überzeugen, ins Dorf zurückzukehren. Er ist alt, er kann sich nicht völlig von der Welt isolieren, wenn ihm nachts etwas passiert, ist niemand da, der ihm helfen
Weitere Kostenlose Bücher