Der Hügel des Windes
Kind gesehen, umgebracht, genau an der Stelle, wo wir jetzt sitzen.« Dann erzählte er, wie er und seine Brüder im Becken der Fiumara gebadet hatten, von den Schüssen, der Flucht Richtung Gipfel, der aufgeregten Mutter und dem offenen Auge des Toten, das ihn jahrelang auf dem Rossarco und in seinen Träumen heimgesucht hatte. Der andere lag mit dem Gesicht im Gras, sonst hätte Arturo ihn erkannt. Erst als er aus der Verbannung zurückkehrte, hatte er erfahren, dass es sich um einen Gauner aus dem Dorf gehandelt hatte, ein Trinker und Herumtreiber, der Bruder eines seiner Schulkameraden.
Michelangelo raffte allen Mut zusammen und fragte: »Aber Pà, warum wurden sie denn hier oben umgebracht? Und wer, glaubst du, sind ihre Mörder?«
»Das weiß ich nicht, Michè. Das frage ich mich selbst seit Jahren und finde keine Antwort. Vielleicht hatte meine Mutter etwas gesehen, Schatten, die wegrannten, aber sie hat das immer geleugnet, und wer möchte sich schon mit einem Sturkopf wie ihr anlegen, du kennst sie ja?!« Ein paar Sekunden saß der Vater mit kindlich aufgerissenen Augen da, als lägen die zwei Toten noch auf dem roten Gras. »Außerdem hat meine Mutter mich schwören lassen, dass ich niemandem davon erzähle, von dieser Sache ...«
»Mir auch nicht?«
»Niemandem ... Aber du bist mein Sohn, Blut von meinem Blut. Du musst alles über mich und den Rossarco wissen. Immer. Und eines Tages wirst du es deinen Kindern erzählen. Nur so wird unsere Geschichte nicht vom Angesicht dieser Erde verschwinden, nur so werden wir nie ganz sterben.«
Es war das zweite Mal in zwei Tagen, dass der Vater ihm Vertrauen schenkte. Michelangelo hätte ihn gerne umarmt, doch er traute sich nicht. Er stand auf, pflückte die dicksten und reifsten Kirschen und bot sie ihm als Zeichen seiner Dankbarkeit und Liebe an.
Nach dem Ende des Schuljahres ging Michelangelo nur noch selten zum Arbeiten auf den Rossarco. »Es ist wichtiger, dass du deiner Schwester für die höhere Schule hilfst«, hatte ihm der Vater aufgetragen.
So schaffte Ninabella dank der Unterstützung ihres Bruders, der besser erklären konnte als ein echter Lehrer, die Zulassungsprüfung für das einführende Lehramtsinstitut in Catanzaro,dem säuerlichen Gesicht ihres Fräulein Lehrerin zum Trotz.
In der Pension hatte sie eine Kammer ganz für sich allein, doch in der ersten Zeit war sie oft bei Michelangelo, dessen Zimmer größer war, um mit ihm zu lernen und zu essen. Manchmal schlenderten sie über den Corso, der nur fünf Minuten von der Via Scalfaro entfernt war, wo sie wohnten. Eigentlich wollten sie nur ein wenig Luft schnappen und sich die Beine vertreten, doch dem Bruder entgingen nicht die bewundernden Blicke der Männer, die das Mädchen, in allem frühreif, anzog wie einen Bienenschwarm. Und sie war eine zauberhafte Erscheinung: groß, mit träumerischem Blick, üppigem Busen und langem, gewelltem Haar wie die Mutter, dem Lächeln und den Lippen des Vaters, die sich wissend öffneten und eine Reihe perfekter weißer Zähne sehen ließen. Sie lief mit erhobenem Haupt und war sich ihrer Wirkung durchaus bewusst.
Allein diese Koketterie, die sie gar nicht mal übertrieben zur Schau trug, ärgerte den Bruder. Weniger aus Eifersucht als vielmehr wegen der Last der Verantwortung, die der Vater ihm aufgebürdet hatte, und als strenger, liebevoller Vater gab er sich auch: Er kontrollierte und korrigierte ihre Hausaufgaben, fragte sie vor Prüfungen ab, wählte sogar ihre Schulkameradinnen aus, mit denen sie sonntagvormittags in die Kirche ging.
Ninabella amüsierte sich über diese Ernsthaftigkeit, doch sie gehorchte, weil sie ihm zutiefst dankbar war. Trotzdem bekam sie im Gegensatz zum Bruder, der mit geblähten Segeln auf das Lehrerdiplom zusteuerte, immer nur ausreichende Noten, wenn man einmal von der gesetzten Bestnote in Zeichnen und Kunstgeschichte absah, dem einzigen Fach,das sie wirklich interessierte. Ansonsten fühlte sie sich von der Starre der Schule erstickt und von der Abstraktheit der Fächer, und wäre sie nicht so ehrgeizig und unter den Freundinnen anerkannt gewesen, hätte sie nach dem ersten Jahr abgebrochen.
Im Grunde fühlte sie sich freier, wenn sie gemeinsam mit ihrem Bruder zu den Festtagen nach Spillace zurückkehrte. Sie packte ihre Staffelei und sämtliche Malutensilien auf den Esel und ging mit der Familie auf den Rossarco. Je nach Jahreszeit wählte sie sich verschiedene Plätze aus. Dann malte sie das Meer, den Leuchtturm
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