Der Hügel des Windes
selbst im rosigsten aller Träume als unerreichbar galt. Selbstvergessen lief sie umher oder saß reglos wie die Gipsmadonnen in der Kirche und ließ ungerührt die gierigen Blicke der Männer und Frauen über sich ergehen, die einen schmachtend, die anderen eifersüchtig.
Bei schönem Wetter wanderte sie mit dem Rest der Familie auf den Rossarco, und während die anderen hart arbeiteten, malte sie von morgens bis nachmittags. Der Vater hatte angeordnet, dass sie nicht gestört werden dürfe, und so kam kein Familienmitglied auf die Idee, sie um Hilfe zu bitten, selbst wenn sie vor Anstrengung umkippten. Ninabella half nach eigenem Gutdünken nur bei der Traubenlese und Olivenernte. Sie war geschickter und schneller als ihr Bruder, doch natürlich konnte sie mit den übrigen Familienmitgliedern nicht mithalten, die ihr Leben lang an die Feldarbeit gewöhnt waren. Selbst die Großmutter, die des Rückens wegen häufig Pausen machte und das Alter und die Arthrose verfluchte, erntete so viel wie beide Enkel zusammen.
Sie war es auch, Nonna Sofia, die das Flugzeug bemerkte, das plötzlich in Richtung des Hügels abgedreht hatte. Sie streckte sich gerade zum wiederholten Male, während ihrSohn mit einer Stange auf die Zweige des großen Olivenbaums eindrosch und die anderen auf der Erde kniend mit gesenkten Köpfen die Oliven einsammelten. Niemand beachtete das entfernte Dröhnen der Kampfflieger, die den Hafen von Crotone angriffen. Inzwischen waren die Bombardierungen in ihren Ohren kaum mehr als das Brummen eines Wespenschwarms, der vorbeiflog und sich dann über dem Meer auflöste: lästig, aber harmlos. »Jesses Maria und Josef!«, schrie die Alte und fuchtelte mit der offenen Hand durch die Luft, als wolle sie die Flugzeugschnauze aufhalten, die bedrohlich näher kam.
Alle schauten in die Richtung des Lärms, der innerhalb weniger Sekunden ohrenbetäubend angeschwollen war. Arturo hatte die Krone des großen Olivenbaums vor dem Gesicht und sah nichts als glitzerndes Blech, dennoch begriff er sofort, brüllte: »Runter, alle auf den Boden!«, und warf sich in die Oliven, die er selbst mit der Stange heruntergeschlagen hatte.
Das Flugzeug schlug mit einem Flügel durch die weiche Krone des Olivenbaums, und ein Regen aus Ästen, Blättern und Oliven prasselte auf die am Boden liegenden Arcuris herab, die instinktiv mit den Armen ihre Köpfe schützten. Dann, in dem verzweifelten Versuch notzulanden, begann es wie eine einbeinige Grille zu hüpfen und erhob sich in einem letzten Aufbäumen am Ende der Hochebene über den Wald. Ein Stück setzte es seinen Flug mit dem Rumpf in den Baumwipfeln der Steineichen fort. Schließlich verlangsamte es seine Fahrt in einem Getöse aus berstenden Zweigen und stoppte dann jäh vor dem Abgrund der Timpalea, mit Schnauze und Flügeln über der Leere schwebend.
Ninabella und Michelangelo sprangen sofort auf und wolltenzum Flugzeug rennen, doch der Vater hielt sie zurück: »Wartet, das kann gefährlich sein.« Dann rannte er in die Hütte, holte sein Jagdgewehr, befahl: »Bleibt hinter mir«, und begab sich in den Wald von Tripepi, im Gänsemarsch gefolgt von seiner Familie.
Bei der Timpalea angelangt, sahen sie den Piloten aus der Maschine klettern. Er wirkte wie betrunken, schwankte bei jedem Schritt und sah sich mit aufgerissenen Augen um, wie einer, der dem Tod ins Gesicht geschaut hat und noch zweifelt, am Leben zu sein. Am Leben durch ein Wunder. Er war jung, groß und schlank. Die blonden Haare klebten ihm an der blutigen Stirn, er blutete auch aus der rechten Schläfe und drehte den Kopf ruckartig hin und her, auf der Suche nach einem Anhaltspunkt, den er nicht fand, bis er die auf ihn gerichtete Waffe sah. Instinktiv hob er die Hände und jammerte leise in einer fremden Sprache. Arturo trat mit angelegtem Gewehr auf ihn zu und fragte: »Wie heißt Ihr, woher kommt Ihr?«
Als einzige Antwort murmelte der Mann mit ängstlicher Stimme vor sich hin, ehe er einen Augenblick später zusammenbrach.
»Er ist ein englischer Pilot, oder zumindest einer, der Englisch spricht ...«, mutmaßte Michelangelo.
»Armer Junge, ist er tot?«, fragte Sofia keuchend.
»Ich glaube nicht, wahrscheinlich ohnmächtig«, meinte Arturo, ertastete mit zwei Fingern seinen Puls und bestätigte: »Er ist bewusstlos, bringen wir ihn rein.« Er gab das Gewehr seinem Sohn, packte den Unbekannten unter den Achseln und zog ihn zur Casella.
Als der Mann wieder zu sich kam, sah er über sich einen Kranz
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