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Der Hühnerführer: Roman (German Edition)

Der Hühnerführer: Roman (German Edition)

Titel: Der Hühnerführer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Weitmayr
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hinführen sollte. Bei uns, das muss man natürlich zugeben, war alles auch viel ruhiger. Nicht so wie in Frankreich. Ich sage nur: Sorbonne, Tränengas, Schüsse. Oder Deutschland im Jahr zuvor: Warum hatten die nur diesen Jungen bei der Demonstration erschossen? Aber letzten Endes ... ob die ostdeutsche Stasi jetzt die BRD destabilisieren hatte wollen, oder nicht – eigentlich egal. Wir wissen ja, wer gewonnen hat. Und das waren nicht die Deutschen aus dem Osten. Nur für den erschossenen Studenten, diesen Ohnesorg macht es einen Unterschied. Der wäre heute ein paar Jahrzehnte älter, statt ein paar Jahrzehnte tot.  
    Dasselbe gilt für Jan Palach. Nur, dass dieser aus freien Stücken beschloss zu einem Symbol zu werden – indem er sich selbst mit Benzin übergoss und anzündete. Nicht, dass das viel half. Die Tanks des Paktes   überrollten die Goldene Stadt und brachten den Winter dorthin zurück, wo eben noch Frühling geherrscht hatte. Die Amerikaner hatten die Tschechen zu ihren Bauern auf dem Brett der Weltpolitik gemacht und ihn, als sie sahen, dass er von den Sowjets geschlagen wurde, ohne mit der Wimper zu zucken geopfert. Bis zum Schluss hatten die Menschen in Böhmen, in Mähren in der Slowakei auf die Verteidiger der großen, der westlichen Demokratie gehofft. Doch die einzigen Panzer, die kamen, waren die aus dem Osten. Nur wenige wagten nach dem Einmarsch noch aufzubegehren. Zu zementiert schien die Macht der Sowjets. Zu ewig ihr Anspruch. Das einzig Gute, das über diese Fußnote der Geschichte gesagt werden kann, ist dass wir, die wir selbst zwei Jahrzehnte lang nur einen Wimpernschlag davon entfernt gewesen waren, hinter dem  selben Vorhang zu verschwinden wie unsere Nachbarn, unsere Herzen öffneten für all jene, die es noch über die Grenzen schafften. Wir hatten das schon einmal getan, zwölf Jahre zuvor, für die Ungarn. Nur leider würde es dieses Mal das letzte Mal sein, dass wir solche Freigebigkeit, solche Courage zeigten. Denn von Jahr zu Jahr wurden wir reicher und unerbittlicher und feiger. 
    Doch sollte der Traum, den sie in Prag träumten, noch immer nicht der letzte sein, der in diesem Jahr zerplatzte. Auf der anderen Seite der Welt wurden wir von einem Feigling, der nicht zulassen wollte, dass die Geschichte endlich im Begriff war, Gleichheit und Gerechtigkeit zuzulassen, in die bitterste aller Realitäten zurückgeholt. Aber, Gott sei Dank, handelte der Mörder zu spät. Dieser Doktor, dieser König mit seiner dunklen Haut hatte uns bereits von seinen Traum erzählt und viel zu viele Menschen in ihrem Inneren berührt, Menschen denen es ganz egal war, ob jemand jetzt ein schweinchenfarbenes oder ein ebenholzbraunes Gesicht hatte.  
    Der Mann, der nie US-Präsident werden würde, weil er so schwitzte und nuschelte wurde genau das: US-Präsident. Im Jahr seiner Wahl brachten die Amerikaner 503 Einwohner des vietnamesischen Dorfes My Lai um. Wir erfuhren das erst zwölf Monate später. Ein entsetzlicher Moment. Hatten wir nicht gerade das Gefühl gehabt, moralisch auf dem Vormarsch zu sein? Gegenüber allen, vor allem aber den Russen, die halb Europa unter ihrer Knute hielten? Hatten wir in den Jahrzehnten zuvor nicht alle in ihre Freiheit entlassen, all die Afrikaner, und das obwohl es genug von uns gab, die meinten, die Neger könnten sich nicht selbst regieren, die so etwas auch laut aussprachen, obwohl der kleine dürre Mann aus Indien mit seiner runden Brille zu diesem Thema schon alles gesagt hatte: “Wenigstens werden es unsere Fehler sein.”  
    Und dann das. 503 Männer, Frauen und Kinder abgeschlachtet von schwer bewaffneten US-Marines. Ich weinte, als ich davon im Radio hörte. Wie ein kleines Kind. Zugegeben, ich hatte zuvor einen harten Tag gehabt, und mich am Abend ein wenig rundgetrunken, was mich am Ende immer ein wenig rührselig stimmt. Aber auch ohne Alkoholeinfluss, hätte mich die Nachricht entsetzt – und als ich mich tags darauf mit all den anderen Demonstranten auf der Ringstraße wieder fand und voller Inbrunst “Amis go home” brüllte, war ich nüchtern wie ein neugeborener Ire.

1969
     
     
    Zwei Jahre und halb so viele Mondlandungen später, wählte ich eine Nummer, die ich während der ganzen Zeit in der untersten Schublade meines Pults aufbewahrt hatte.  
    “ Ja, bitte?” Fleischer. 
    “ Was sage ich jetzt? Der Adler ist gelandet?” 
    “ Sie sollten wirklich nicht versuchen, humorvoll zu sein, Herr Alexander. Das Nüchterne,

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