Der Hüter des Schwertes
würde. Das Drachenschwert konnte alles ändern und die Dinge wieder zu ihren Gunsten wenden. Mit einem Streiter an ihrer Seite würden die Menschen im Land sie wieder voll und ganz akzeptieren. Es wäre eine Wiederholung der Geschichte, wie sie König Riel widerfahren war. Mit dem Drachenschwert würde das Volk sich ihr anschließen und sich gegen Gello und die Adligen stellen. Wenn das ganze Land gegen ihn war, würde Gello keine andere Wahl haben, als sich ihr zu beugen. Das war ihr Traum. Ein Teil von ihr ahnte, dass es nicht so einfach sein würde, dass Gello sich nicht kleinlaut ergeben würde. Aber sie durfte die Hoffnung nicht aufgeben.
Der Tod von Herzogin Ivene vor drei Monaten hatte ihre Laune kurzzeitig gehoben. Ohne seine Mutter und Mentorin würde Gellos Manipulation des Kronrats bestimmt ein Ende nehmen.
Aber sie hätte sich denken können, dass ihr Gegner auf alle Eventualitäten vorbereitet war. Natürlich hatte sie sich nie träumen lassen, dass er sogar so weit gehen würde, das Drachenschwert stehlen zu lassen.
Nun war sie im Grunde genommen eine Gefangene und wurde, wo sie auch hinging, von Gellos Männern begleitet. Dem Volk hatte man weisgemacht, das geschehe zur Sicherheit der Königin, und die Anwesenheit von bewaffneten Soldaten in jeder Stadt und in jedem Dorf diene dem Schutz der Bewohner. In ihrem Namen war ein Erlass verbreitet worden, dass im ganzen Land Kriegsrecht gelte und Gello als Herrscher eingesetzt werde, bis diese unruhigen Zeiten überstanden seien. In Wahrheit hatte Gello vom Thronsaal Besitz ergriffen, und seine Offiziere suchten ihn dort auf, um ihre Befehle entgegenzunehmen.
In gewisser Weise war es eine Erleichterung. Nach Jahren der Anspannung und des Pläneschmiedens, immer mit dem Gefühl, sie würde mit gebundenen Händen kämpfen, war es fast eine Erholung, dass sie sich jetzt um nichts anderes mehr kümmern musste als die Auswahl ihrer Garderobe für den einen Ausflug pro Tag, der ihr gestattet war, und die Entscheidung, wohin dieser Ausflug gehen sollte.
Aber andererseits war es demütigend, ärgerlich und beängstigend sowohl für sie als auch für das Land selbst. Sie vermutete, dass sie in naher Zukunft das Opfer irgendeines Unfalls werden oder sich eine fatale »Krankheit« zuziehen würde. Wenn das Land erst im Krieg stand, würde es dem Volk gleichgültig sein, wer die Verantwortung trug, solange er nur mit starker Hand regierte.
Aber da es so weit noch nicht war, fand sie es enttäuschend, dass niemand der Machtübernahme durch Gello widersprochen hatte. Sie regierte das Land noch nicht lange, aber sie hätte erwartet, dass ein paar Priester und gewöhnliche Leute sich wegen der jüngsten Entwicklungen wenigstens bestürzt gezeigt hätten.
Sie hatte mit Rana darüber gesprochen, die eine Erklärung dazu gefunden hatte. Ihrer Meinung nach war das Volk so daran gewöhnt, in Frieden zu leben, dass einfach kaum jemand verstand, was Gello eigentlich getan hatte. Die Könige von Norstalos hatten immer gut regiert und sich auch willens gezeigt, den Thron für Neffen oder Cousins zu räumen, wenn das Drachenschwert es so gewollt hatte. Nach so vielen Jahrhunderten des Edelmuts konnten sich die Norstaler einfach nicht vorstellen, dass ein Mitglied der Königsfamilie die Macht an sich reißen wollte. Und eine lange Geschichte ohne innere und äußere Konflikte wiegte das Volk in einem falschen Gefühl der Sicherheit.
Sie wusste nicht, ob Rana recht hatte, aber ihr fiel auch keine bessere Erklärung ein. So blieb ihr nichts anderes als abzuwarten. Sie hatte jedoch ihre Hofdamen – die einzigen Menschen im Palast, die ihr noch treu ergeben waren – damit beauftragt, etwas mehr in Erfahrung zu bringen, indem sie mit Gellos Offizieren sprachen. Sie selbst konnte nur den Blick über die Dächer der Häuser schweifen lassen, die sie von ihrem Fenster aus sah, und auf ein Zeichen hoffen, es würde irgendjemanden beunruhigen, dass die Königin entmachtet war. Aber jedes Anzeichen dafür blieb aus. Selbst das Armenviertel war ruhig. Das hatte sie verletzt. Sie wusste, dass ihre Herrschaft hauptsächlich aus dem Machtkampf mit Gello bestanden hatte und aus Wohltaten für das Volk, aber dass es keinerlei noch so harmlose Proteste gab, war ein vernichtendes Urteil über ihre Herrschaft.
Dann hatte das kleine Mädchen ihr diese Botschaft gebracht. Die Nachricht, dass Barrett und ein Krieger sie befreien wollten. Konnte Barrett das Drachenschwert zurückgewonnen und
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