Der Hüter des Schwertes
aufrichtig.
»Karia!«, rief er.
»Pater!«, schrie sie und flog ihm in die Arme, um ihn so fest zu drücken, als wolle sie ihn niemals loslassen. Dann fing sie an zu weinen und schluchzte, als könne sie die Erinnerungen an die vergangenen sechs Monate mit einem Tränenschwall davonschwemmen.
Martil wusste gar nicht, wo er hinschauen sollte, und spürte sofort, dass Karia es hier besser haben würde als bei Edil, ihm selbst oder diesem mysteriösen Onkel Danir. Schließlich versiegten ihre Tränen und wurden durch ein sanftes Schniefen abgelöst.
»Und wer bist du, und was führt dich hierher?«, fragte Nott und wandte sich, ohne Karia loszulassen, Martil zu.
»Das ist eine lange Geschichte, Pater«, seufzte Martil.
»Dann kommt herein. Ich bin zwar nicht mehr der Jüngste, aber für ein, zwei lange Geschichten habe ich noch Zeit«, sagte der alte Priester lächelnd und deutete dann auf die beiden Schwerter, die Martil gegürtet hatte. »Aber kannst du die draußen lassen, mein Sohn? Ich habe sie nicht gern in meinem Haus.«
Martil legte seinen Schwertgürtel ab, schlang ihn um die Schwerter und lehnte sie neben der Tür ans Haus. Ihr Gewicht nicht zu spüren, fühlte sich angenehm und zugleich beunruhigend an.
Pater Nott führte sie ins Haus; Karia kannte sich offensichtlich gut aus und eilte voraus und geradewegs in die Küche. Das Haus war bescheiden möbliert – einfache und nicht zu viele Holzmöbel – und von einer Atmosphäre ruhiger Gelassenheit erfüllt. Einfach nur in diesem Haus zu sein entspannte Martil. Er wusste, dass viele Priester luxuriös lebten, während ihre Gemeinde unter Armut litt, aber dieses Haus war so eingerichtet, dass auch ein durchschnittlicher Bauer es sich hätte leisten können. Karia hatte sich an dem großen Küchentisch niedergelassen und wartete aufgeregt auf etwas zu essen. Pater Nott tätschelte ihr im Vorbeigehen abwesend den Kopf, nahm einen halben Brotlaib und ein Stück Käse aus dem Schrank, legte beides auf einen Teller und stelle es auf den Tisch.
»Tee?«, fragte er Martil.
»Ja, bitte. Soll ich Ihnen zur Hand gehen?«, bot er an, als er sah, wie Pater Notts Hand, mit der er den Wasserkessel hielt, zitterte.
»Setz dich. Der Tag, an dem ich mir keinen Tee mehr kochen kann, ist der Tag, an dem ich meinem Gott begegne«, lachte der alte Priester und stellte den Wasserkessel auf die Feuerstelle. Martil setzte sich neben Karia, die bereits ein wenig Brot abgebrochen hatte und es zusammen mit etwas Käse in sich hineinstopfte – obwohl sie während ihres Ritts an diesem Tag schon zwei Äpfel, einige Streifen Trockenfleisch und ein riesiges Haferplätzchen gegessen hatte. Er sah zu, wie der alte Priester sich in der Küche zu schaffen machte, Tassen herausholte, in die er Stücke von kandiertem Honig gab, und dann Teeblätter für die Teekanne vorbereitete.
»Ich nehme an, wir werden Edil nicht wiedersehen, zumindest nicht bis zum Tag unseres Gerichtes«, sagte Nott beiläufig, während er einen Krug Milch holte und Karia ein Glas einschenkte.
Martil warf Karia einen flüchtigen Blick zu; er war sich nicht sicher, was er sagen sollte.
»Du musst nichts sagen. Ich habe immer gewusst, dass Karias Familie ein schlimmes Ende nehmen würde. Ich bin nur sehr erleichtert, dass sie noch am Leben ist«, sagte Nott gelassen, als er den Tee eingoss. »Ich hoffe, du magst Honig.«
»Natürlich.« Normalerweise trank Martil niemals Tee mit Honig – die Chance, beim Heer Honig und Milch zum Tee zu bekommen, standen ungefähr ebenso gut wie die, dass ein berellischer Streitaxtmann einem eine Gutenachtgeschichte vorlas. Aber seine zukünftige Freiheit hing davon ab, ob er auf diesen Priester einen guten Eindruck machte.
»Ich wusste, dass Edil sie nicht gut behandeln würde. Aber das, was ich jetzt sehe, übertrifft meine schlimmsten Erwartungen bei Weitem. Sie hat mich ja seit Monaten nicht besucht, geschweige denn die Dorfschule, die ich betreibe. Jetzt weiß ich auch, warum. Sie ist völlig abgemagert und hat keine eigenen Kleider mehr. Wenn sie aufgegessen hat, sollte sie baden und danach schlafen gehen. Und dann kannst du mir vielleicht die lange Geschichte erzählen, die du eingangs erwähnt hast.«
»Sprecht ihr über mich?« Karia hob den Blick von ihrem Teller.
»Wir haben nur gesagt, dass du statt dieses alten Hemdes besser das Kleid anziehst, das du hiergelassen hast«, sagte Pater Nott sanft, während Martil schon wieder in Panik geriet, weil er nicht
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