Der Hüter des Schwertes
abgelehnt. Sie konnte sich noch genau daran erinnern.
Der Tag hatte mit Feierlichkeiten begonnen; der neue König sollte ernannt werden. Merren hatte sich nicht besonders wohl gefühlt, da ihr Cousin Gello ihr schon immer rüpelhaft und arrogant vorgekommen war. Sie hatte seinen Anblick genossen, wie er tränenüberströmt im Thronsaal stand und unter den Augen der Vornehmsten des Landes vergebens am Griff des Drachenschwertes zog.
Gello war damals aus dem Thronsaal geflohen – und Merrens Leben hatte sich dramatisch verändert.
Ihr Vater, König Croft, hatte die Krise kommen sehen. Gello war die letzte Hoffnung gewesen. Alle anderen männlichen Adligen hatte das Schwert bereits abgelehnt. Norstalos musste eine Übergangsregelung einführen, bis die nächste Generation geboren war und sich darin hoffentlich jemand fand, den das Drachenschwert akzeptierte. Also musste Merren als Tochter des Königs und damit höchstrangige Adlige des Landes bis zu diesem Tage regieren. Allerdings gab es Bedingungen für ihre Herrschaft. Sie musste standesgemäß heiraten und Söhne gebären, bis einer von ihnen das Schwert zu ziehen vermochte. Bis dahin musste sie außerdem einen Krieger finden, der das Schwert für sie führte, um Norstalos zu beschützen. Denn die Drachen hatten König Riel gewarnt, dass die Magie des Schwertes auf eine Frau nicht reagieren und nur einen Mann anerkennen würde. Es war eine merkwürdige Einschränkung, aber, wie Croft zu sagen pflegte, wenn Drachen dir ein magisches Schwert anbieten, stellst du keine Fragen. Merren verfluchte diese Einschränkung jetzt ebenfalls. Wie konnten die Drachen so mächtig und dumm zugleich sein? Was für eine Magie war das, die von keiner Frau benutzt werden konnte? Sie hatte einst heimlich versucht, das Schwert zu ziehen, weil sie geglaubt hatte, diese Geschichte sei nur ein von gierigen Männern ersonnenes Märchen, von Männern, die ihre Macht nicht an eine Frau verlieren wollten. Aber es war kalt und reglos geblieben, es schien in seiner Scheide festgefroren gewesen zu sein. Was für eine Enttäuschung! Sie wünschte noch immer, sie könnte den Grund für diese Eigenart herausfinden, aber bisher hatte es ihr niemand erklären können.
Merkwürdigerweise war ihr Vater in einer ähnlichen Lage gewesen wie sie jetzt, aber mit etwas anders verteilten Rollen. Seine ältere Schwester Ivene war ihren Eltern rasch nach deren Hochzeit geboren worden, aber dann hatte das Königspaar Jahre der Fehl- und Totgeburten erlebt. Daran hatten auch alle die Gebete des Volkes, der Adligen, der Priester und des Erzbischofs nichts ändern können. Andere männliche Cousins hatte es nicht gegeben. Und keiner der Adligen hatte das Schwert ziehen können. So schien es, als müsse Ivene die Thronfolge als Königin antreten, einen Prinzgemahl finden und einen Krieger ernennen, der das Drachenschwert für sie führte. Dann, als ihre Mutter schon fast so alt war, dass sie keine Kinder mehr bekommen konnte, brachte sie Croft zur Welt. Glücklicherweise erkannte das Drachenschwert ihn an, und inmitten der öffentlichen Feiern hatte Ivene sich damit abfinden müssen, zur Herzogin von Westnorstalos ernannt zu werden, statt als Königin das Land zu regieren. Nachdem sie jahrelang auf diese große Aufgabe vorbereitet worden war, war das eine sehr bittere Pille für sie gewesen. Nur die Hoffnung, dass ihr Sohn Gello eines Tages die Thronfolge antreten würde, ließ sie ihre Enttäuschung ertragen. Als ihr Sohn dann vom Drachenschwert abgewiesen wurde, war das für sie beide ein überaus schwerer Schlag. Teils als Geste im Hinblick auf dieses Ereignis und teils, um die Krise der ausstehenden Thronfolge zu lösen, traf der von Schuldgefühlen geplagte König Croft eine Vereinbarung mit seiner Schwester. Merren musste die Thronfolge antreten, und man würde unverzüglich beginnen, sie auf diese Pflicht vorzubereiten. Aber Herzog Gello würde beispiellose Macht erhalten. Er würde das Heer befehligen, bis einer ihrer – oder seiner – Söhne vom Drachenschwert zur Thronfolge bestimmt würde.
Als Ergebnis dieser Vereinbarung trug zum ersten Mal in der Geschichte des stolzen Norstalos eine Frau die Königskrone. Entscheidend war jedoch, dass sie nicht die Befehlsgewalt über das Heer hatte. Nur durch das Wohlwollen der Adligen, insbesondere das von Herzog Gello, konnte sie ihre Herrschaft aufrechterhalten.
Merren hatte sich oft gefragt, welche Teile dieser Vereinbarung von ihrem Vater und welche von
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