Der Hund des Propheten: Roman (German Edition)
Rollschränke, die Überreste einer Dachantenne und einen abgehängten Deckenleuchter im Stil der späten Fünfzigerjahre.
»Das sieht ja noch recht aufgeräumt aus«, sagt Marielouise Hartlaub. »In dem Pfarrhaus, in dem ich aufgewachsen bin, hat es auf dem Speicher einen kompletten verzauberten Ardennerwald gegeben, den außer mir freilich niemand jemals gesehen hat, mottenzerfressene Kostüme von den Krippenspielen, Regale mit Bündeln von irgendwelchen Papieren, es werden Sitzungsprotokolle gewesen sein, aber ich habe mir ausgemalt, darunter wären Aufzeichnungen verschollener Liebespaare versteckt, verschollen zu sein fand ich überhaupt sehr interessant.«
Von unten kommt Felix angetrottet und äugt zu ihnen hoch. »Ich habe dich nicht gerufen«, sagt Berndorf missbilligend. Der Hund steigt, Pfote vor Pfote setzend, zu ihnen hoch. Marielouise Hartlaub beugt sich zu ihm herunter und beginnt, ihn hinter den Ohren zu kraulen, und sein dicker Kopf streckt sich der Hand entgegen.
Sie setzt sich auf die oberste Treppenstufe, die Hüfte gegen das Geländer geschoben, und Felix legt sich neben sie, sodass Berndorf nichts anderes übrig bleibt, als sich zwischen seinen Hund und die Wand zu zwängen und sich ebenfalls hinzusetzen.
»Und – was haben Sie unter den Protokollen gefunden?«
»Ich habe mich nicht getraut. Die waren sorgfältig verschnürt, einige auch versiegelt, mein Vater konnte sehr streng sein.« Sie hält inne, die Hand auf Felix’ Kopf gelegt. »Vielleicht war es nicht so sehr Angst, sondern Scheu … Was wäre denn gewesen, wenn ich wirklich solche Aufzeichnungen gefunden hätte, Liebesbriefe zum Beispiel? Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich die hätte lesen wollen.«
»Als ich zwölf war oder dreizehn«, sagt Berndorf, »und das Zeitunglesen entdeckt hatte, hab ich auf dem Speicher alte Zeitungen durchforstet, nach Fußballberichten, die ein paar Jahre alt waren, aus der Zeit, als ich so klein war, dass ich noch nicht einmal einen Club hatte, von dem ich Fan war…«
»Alte Zeitungen gab es bei uns auch, einige sehr ordentlich abgeheftet, das musste ein Vorvorgänger meines Vaters getan haben, denn es waren Zeitungen aus den Zwanzigerjahren, ich habe nie wieder so spannende Fortsetzungsromane gelesen und alles davon vergessen… Die wirkliche Sensation aber war ein Buch, in Packpapier eingeschlagen, so, als ob es zur Post gebracht werden sollte und vergessen worden ist. Es war ›Alice im Wunderland‹, eine gebundene Ausgabe, auch noch mit Illustrationen, ich habe damals sofort gewusst, dass es als Geschenk gedacht gewesen war für irgendeines der Mädchen, die vor mir in dem Pfarrhaus gelebt hatten, und dass das Mädchen das Buch nicht hat annehmen dürfen.«
»Warum nicht?«, fragt Berndorf.
»So denken Sie doch: ein Buch mit Illustrationen, die kein biblisches Thema haben und das auch nicht von Kindern handelt, die auf den rechten Weg der Tugend zurückgeführt werden, sondern von falschen Suppenschildkröten und Spielkarten, die sprechen! Das konnte damals keinen Platz in einem Pfarrhaushalt haben, nicht in den Zwanziger- oder frühen Dreißigerjahren, und erst recht nicht, wenn dieses Pfarrhaus in einem thüringischen Dorf stand… Ich komme aus Thüringen, müssen Sie wissen.«
»Ich weiß, dass Sie aus der DDR kommen«, sagt Berndorf. Marielouise Hartlaub wirft ihm einen raschen Blick zu. »Ach ja? Ich wusste nicht, dass man das hören kann wie bei den Sachsen. Sind Sie ein wenig ein Mr. Higgins?«
»Es ist nicht der Dialekt«, antwortet Berndorf. »Es war die Brause.«
»Das müssen Sie mir erklären.«
»Es war im Café, Sie bestellten für Ihren Sohn und fragten nach einer Brause, der Kellner schaute etwas ratlos, ihr Sohn nutzte das aus und wollte eine Cola… Schließlich haben Sie sich für einen Apfelsaft entschieden. Die Brause ist im Westen schon lange verschwunden, in den Fünfzigerjahren gab es noch dieses rosafarbene Pulver, das man aufgießen konnte und das einen mit Himbeergeschmack in der Nase kitzelte.« »In Giftgelb gab es das auch«, sagt sie. »Dass ich das im Café bestellen wollte, weiß ich gar nicht mehr. Aber es muss wohl so gewesen sein, wie Sie sagen. Denn diesen ratlosen Blick, den kenne ich. Ich weiß noch, wie ich eine Zuckertüte kaufen wollte, und die Verkäuferin mich ansah, als sei ich auf dem falschen Bahnsteig. Dabei ist das doch schon so schlimm genug, dass man den Kleinen so ein betrügerisches Ding aufdrängt.« »Ach so«, sagt
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