Der Hund des Propheten: Roman (German Edition)
und den Daten, die die Bonner Polizei am Nachmittag per Funk übermittelt hatte.
»Da ist noch etwas«, sagt Kovacz, »ein Herr aus unserer Zeit, kein Steinzeitjäger, was aber gewisse atavistische Gepflogenheiten nicht ausschließt. Irgendwann einmal hat er oben an der Stirn eine Schnittverletzung davongetragen, wie von einem Schlag mit einem scharfen Gegenstand, ich glaube nicht, dass er durchs Fenster gefallen ist. So etwas ist typisch für eine Mensurverletzung, Sie können guten Gewissens daraus schließen, dass er einer schlagenden Verbindung angehört hat, also konservativ-reaktionäres Oberschicht-Milieu…«
Tamar schiebt das Passfoto über den Schreibtisch.
»Passt das?«
Kovacz betrachtet das Bild. Es zeigt ein Gesicht mit der Andeutung eines sarkastischen Lächelns, das vielleicht gar kein Lächeln ist, sondern nur die Wirkung eines ein wenig schief ins Gesicht gesetzten Mundes, die blonden Haare bereits zurückweichend, auf der Stirn die Einkerbung einer alten Narbe, ein deutlich sichtbarer Schmiss.
»Perfekt«, sagt Kovacz. »Sie sind auf der richtigen Spur, glaube ich. Übrigens – bei seinem Tod hat er auf weniger atavistisches Gerät zurückgreifen lassen.« Er schiebt eine durchsichtige Plastiktüte über den Tisch. »Hier. Als es für ihn so weit war, hat er eine Lederweste getragen, praktisch und haltbar. Und Ihre Taucher haben das alles sehr sorgsam herausgeholt, die Weste und was darin war! Diese Kugel war darin…«
Tamar nimmt die Plastiktüte behutsam auf und hält sie gegen das Licht der Schreibtischlampe.
»Die Weste war übrigens aufgeknöpft, post mortem, vermute ich«, fährt Kovacz fort. »Und wissen Sie, warum? Bevor er ins Wasser kam, hat man ihm die Bauchdecke samt Unterhemd mit einem sauberen Schnitt aufgetrennt. Damit die Leiche nicht auftreibt. Der Täter ist ein Mensch, der sehr praktisch denkt. Er knöpft die Weste auf, setzt das Jagdmesser an. Umsichtig und nervenstark.«
»Steinbronner ist das auch aufgefallen«, sagt Tamar. »Was können Sie über die Kugel sagen?«
»Sie hat den Brustkorb durchschlagen und das linke Schulterblatt fast zertrümmert. Sie werden das ja ins LKA bringen lassen, und den Fachleuten dort will ich nicht vorgreifen. Aber das ist kein Projektil aus einer Faustfeuerwaffe. Es ist Jagdmunition.«
Wenig später verlässt Tamar die Villa, in der das Gerichtsmedizinische Institut der Universität Ulm untergebracht ist. Vor ihr liegt die Pauluskirche und dahinter die Stadt unter der vom Straßenlicht angestrahlten Dunstglocke. Ein Windstoß weht ihr ein paar verirrte Regentropfen ins Gesicht. In der Ferne jault ein Martinshorn.
Berndorf hält seinen Hund an der halb abgerissenen Leine. Sein Mantel ist geöffnet. Ohne es zu bemerken, hat er mit der linken Hand seinen Hemdkragen weit aufgeknöpft.
Vor ihm, an der Einmündung des Grünen Hofs in die Neue Straße, steht eine Gruppe von Menschen.
»Platz«, befiehlt er. Felix zögert. »Menschenskind Hund, mach Platz!« Widerstrebend legt sich Felix auf den Gehsteig. Berndorf geht auf die Gruppe zu und schiebt sich durch die Zuschauer. Eine Frau protestiert. Er hört sie nicht.
Dann steht er vor Marielouise Hartlaub. Sie liegt auf dem Gehsteig, auf der Seite. Jemand hat einen Mantel unter ihren Kopf gebettet, ein Mann kniet bei ihr und hält ihr Handgelenk, als ob er den Puls zähle.
Berndorf kniet sich neben ihn. »Sind Sie Arzt?«
»Der Notarzt kommt gleich«, antwortet der Mann, »ich war Sanitäter, beim Bund … Gehören Sie zu ihr?«
»Nein«, sagt Berndorf und wirft einen Blick auf die Straße. Im Rinnstein liegt ein Taschenbuch. Schräg steht ein Wagen am Straßenrand. Neben dem Wagen steht ein Mann. »Das muss man mir glauben.« Beschwörend, fast zitternd zeigt er seine Hände vor, als seien sie der Beweis.
»Die ist einfach auf die Straße gerannt, ich hab sie noch kommen sehen und die Bremse reingehauen, aber wenn es so nass ist…«
»Die ist vor jemanden davongelaufen.« Eine magere Frau mit einem Hut wie ein umgedrehter Blumentopf schiebt sich vor den Fahrer und fordert Aufmerksamkeit. »Ich hab es gesehen, ein Kerl war hinter ihr her, so ein großer, im Lodenmantel. Wie es passiert ist, war er plötzlich weg…«
»Ich glaube«, sagt der Mann, der Sanitäter beim Bund war, »sie hat noch Glück gehabt, der Puls ist stabil.«
Das Heulen eines Martinshorns nähert sich. Ein Streifenwagen fährt mit Blaulicht über die Kreuzung und stoppt vor dem schräg abgestellten
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