Der Hund des Propheten: Roman (German Edition)
kratzen.
»Zu dumm«, sagt der Archivar, »ich hätt’ es wissen müssen. Der Ordner ist vor ein paar Tagen ausgeliehen worden…«
Berndorf wartet und vermeidet es, Frentzel anzusehen.
»Ja, es ist doch merkwürdig«, fährt der Archivar fort, »der Eugen Hollerbach hat ihn ausgeliehen, letzte Woche schon, ich dachte mir noch heute Morgen, als ich das mit dem schrecklichen Unglück gehört habe, komisch, dachte ich, da war doch was…«
»Soll ich Ihnen sagen, was ich rieche?«, fragt Frentzel, aber es ist nicht an den Archivar gerichtet.
Berndorf überlegt. »Hatte Hollerbach hier in der Redaktion einen eigenen Schreibtisch?«
»Das fehlte noch«, meint Frentzel, »dass wir den Herren eigene Schreibtische einrichten!«
Aber immerhin gibt es einen Arbeitsplatz für die freien Mitarbeiter, und so gehen Frentzel und Berndorf und der Hund durch die verwinkelten Gänge zurück, weichen einer großen jungen Frau mit wehendem Haar und schwingendem Busen aus, die Frau erinnert Berndorf entfernt an Tamar, und kommen schließlich in das Großraumbüro der Lokalredaktion, wo an einem guten anderthalb Dutzend computerbestückter Schreibtische telefoniert und geschrieben wird. Das geschieht in eher unauffälliger, fast gedämpfter Geschäftigkeit, nur an einem der Schreibtische telefoniert ein Mensch mit einer Lautstärke, als sei es Bells Erfindung gewesen, dass man durch Drähte hindurchbrüllen kann.
Frentzel bleibt an einem leeren Tisch stehen, neben dem Tisch ist ein kleines Regal, aber in dem Regal findet sich keiner der Ordner aus dem Archiv. Frentzel blickt in die Runde: »Weiß jemand, ob der Hollerbach hier irgendwo einen Ordner hat stehen lassen…?« Die Frage nach Hollerbach unterbricht die gedämpfte Betriebsamkeit und auch die brüllende und eine nicht mehr ganz junge Frau mit lustigen braunen Augen weiß, dass Hollerbach letzte Woche mit einem dieser alten
Ordner abgezogen ist.
»Das weißt du doch, dass die Ordner nicht außer Haus dürfen…«
»Er hat gesagt, es ist mit dir abgesprochen.«
Berndorf mischt sich ein. »Sie wissen nicht, woran er gearbeitet hat?«
Die Frau mit den lustigen braunen Augen betrachtet ihn nachdenklich. »Wissen Sie, unser Eugen Hollerbach hat immer gern etwas ausgegraben und angebracht, von dem niemand so recht wusste, wozu es gut sein soll …« Sie wendet sich an die Runde. »Erinnert ihr euch noch an die Geschichte mit dem Nazigold? Ein paar Monate lang ist das so gegangen, und Hollerbach hat in alten Bombentrichtern im Lautertal herumgestochert…«
»Du erzählst es wieder falsch«, unterbricht sie der Mensch mit der dröhnenden Stimme, »er hat sich hinter den Tauchsportclub geklemmt, sie sollten in den Löchern nachsehen. Das haben die auch gemacht, ein- oder zweimal, jede Menge alte Schuhe und kaputte Fahrräder rausgeholt und einmal einen alten VW, aber dann sind die Naturschützer dahintergekommen und haben den Unfug übers Landratsamt verbieten lassen, damit die Molche ihre Ruhe haben…«
Berndorf wendet sich an Frentzel. »Sie haben doch sicher auch ganze Jahresbände, also die gesammelten Ausgaben eines Jahres?«
»Sollten wir haben«, sagt Frentzel.
Und so gehen Berndorf und Felix zurück ins Archiv, begegnen leider diesmal nicht der Schönen mit dem wehenden Haar, sondern nur einem Menschen in dunklen Nadelstreifen, der sich bei Felix’ Anblick besorgt an die Wand drückt, um sie vorbeizulassen. »Keine Sorge«, lügt Berndorf, »der Hund ist nicht wirklich gefährlich…« Dann erklärt er dem Archivar, was er sucht. Der Archivar nickt aufmerksam und macht sich auf den Weg, denn die Jahrbände aus der Zeit um 1960 sind im Keller gelagert. Berndorf muss eine Weile warten, dann kommt der Archivar zurück und schiebt auf einem kleinen Wagen einen Stapel angestaubter, in grauen Pappdeckel eingebundener Bände vor sich her.
Die Bände werden in ein kleines Kabuff gebracht, das von einer Neonlampe ausgeleuchtet wird und durch eine Glasscheibe von der Telefonzentrale abgetrennt ist. Die Telefonistin hat toupierte gelbe Haare und erzählt – wenn sie gerade keine Anrufe entgegennimmt – einer für Berndorf nicht sichtbaren Kollegin von einem Kurs für Singles, der leider ein Fehlschlag gewesen sei, bei manchen Leuten sei es ja nun wirklich kein Wunder, dass sie solo seien.
Berndorf betrachtet die Bände und überlegt, wo er beginnen soll. Er selbst war im September 1962 nach seinem Abschlusslehrgang zum Dezernat I der Stuttgarter
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