Der Hund des Propheten: Roman (German Edition)
Herzkönigin verklagt den Herzbuben, weil er der Tortendieb sei …«
Mit ihrer ungeschienten Hand greift sie in die Jackentasche und holt das Taschenbuch heraus. »Ich lese euch eine Stelle vor.«
Etwas mühsam blättert sie das Buch mit dem Daumen auf. »Es geht um ein Schriftstück, das der Staatsanwalt – der Staatsanwalt ist das Weiße Kaninchen – dem Gericht vorlegt und das den Herzbuben überführen soll:
… Dabei faltete das Weiße Kaninchen das Schreiben auf und setzte hinzu: ›Nun ist es doch kein Brief, sondern vielmehr ein Gedicht.‹ ›In der Handschrift des Angeklagten?‹, fragte ein zweiter Schöffe. ›Nein, eben nicht‹, sagte das Weiße Kaninchen, ›das ist ja gerade das Sonderbare.‹ (Die Schöffen schauen alle ratlos drein.)
›Er muss eine fremde Handschrift nachgeahmt haben‹, sagte der König. (Die Schöffen waren alle erleichtert.)
›Mit Verlaub, Euer Majestät‹, sagte der Herzbube, ›Ich habe das nicht geschrieben, und das kann mir auch keiner beweisen, es steht keine Unterschrift darunter.‹
›Dass du nicht unterschrieben hast‹, sagte der König, ›macht die Sache nur schlimmer. Du musst ja etwas im Schilde geführt haben, sonst hättest du deinen Namen darunter gesetzt wie ein ehrlicher Mensch.‹«
Marielouise legt das Buch auf den Tisch und lächelt kurz. »Als ich das gelesen habe, wusste ich es wieder. Ich bin auch einmal vor Gericht gestanden, das war in der DDR, und die Gerichtsverhandlung lief genau so ab wie hier im Buch. Nur dass der Staatsanwalt kein Weißes Kaninchen war. Aber wenn er republikfeindliche Hetze nicht nachweisen konnte, so war dies nur ein strafverschärfender Beweis für die besondere Gefährlichkeit und Verschlagenheit der Angeklagten.«
»Alice steht zum Schluss auf«, sagt Berndorf, »und wirft den König und die Königin und ihren ganzen Hofstaat über den Haufen, denn es sind ja nur Spielkarten.«
»Ja, in Wirklichkeit ist das auch 1989 passiert«, antwortet Marielouise. »Mein Verfahren war einige Jahre vorher. Leider überstieg es meine Kräfte, das Kartenspiel zusammenzuwerfen, überhaupt überstieg dieses Wunderland unsere Kräfte. Ich erinnere mich an einen unserer Freunde, es war jemand, der unser Informationsmaterial abgezogen und vervielfältigt hat… Er war unermüdlich bei der Arbeit, aber die Stasi hatte unsere Papierstapel radioaktiv markiert, um jeden einzelnen unserer Informationszettel aufspüren zu können. Ich weiß, dass mein Freund davon die Leukämie bekommen hat.«
Berndorf erinnert sich an seinen Besuch in dem Krankenzimmer, in dem Jonas Seiffert lag, todkrank. Damals war noch ein Mann im Zimmer. Marielouise saß vor seinem Bett.
»Wissen Sie, ob Ihr Freund noch lebt?«, fragt er schießlich. Er tut es, obwohl er weiß, dass auch dieser andere Mann tot ist. Sie selbst hat es ihm gesagt.
Sie zögert. »Nein«, sagt sie dann, »ich weiß es nicht.«
»Sie sind damals selbst in Haft gekommen?«
Marielouise blickt ihn fast misstrauisch an. »Sind Sie nicht jemand, der das wissen sollte? Oder testen Sie mich gerade?« »Es ist mir erzählt worden«, sagt Berndorf.
»Ich war in einer Haftanstalt bei Berlin«, fährt Marielouise fort. »Ich musste in der Wäscherei arbeiten. Wir haben die Wäsche für die Bonzen in Wandlitz und sonst wo besorgt…« Wieder lächelt sie. Es ist ein karges, angestrengtes Lächeln. »Der Dampf, die Hitze, der Geruch, die Empfindung, wie sich die rissig gewordenen Hände anfühlen – das ist alles wieder da. Aber wer Sie sind und warum Sie mich besuchen, und wer die anderen Leute sind, die zu mir kommen, das alles weiß ich nicht. Noch immer nicht.« Sie blickt zu Pascal. »Nicht einmal…«
Sie will weitersprechen, doch schmetternd ertönt Blech, getragen untermalt von Tuba und Bass, die Tassen und Teller auf den Glastischen der Cafeteria beginnen zu vibrieren. Weil es draußen aus Kübeln schüttet, haben die Männer des Posaunenchors im Foyer Aufstellung genommen und intonieren jetzt: »So nimm denn meine Hände …«
Berndorf macht eine Handbewegung, die nach oben zeigt, doch sie schüttelt nur den Kopf. So hören sie geduldig zu, Berndorf sieht sich um, auch an den anderen Tischen hat sich allgemeines Schweigen breit gemacht, weil gegen den Choral nicht anzureden ist. Ergeben lauschen die Patienten in ihren Bademänteln und die Besucher und deren gelangweilte Kinder, auch der türkischen Großfamilie links hinten bleibt nichts anderes übrig, bis denn der Choral
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