Der Hund des Propheten: Roman (German Edition)
Staatspartei wählen muss, irgendwie geht das aber nicht ganz so auf, nächste Seite … Plötzlich hält er inne und blättert zurück, es ist nur eine kleine Notiz, ohne Überschrift, der Ortsname als gefettete Spitzmarke:
LAUTERNBÜRG • Im Rahmen einer technischen Übung der Freiwilligen Feuerwehr ist am Dienstagabend ein leerstehendes und baufälliges Haus abgebrochen worden. Wie Kommandant Neuböckh dazu mitteilt, hätten sich in dem Haus Ratten und anderes Ungeziefer eingenistet, weshalb ein Eingreifen dringend geboten gewesen sei.
Berndorf wirft einen Blick auf die Datumszeile, erschienen ist die Ausgabe am Freitag, 6. Oktober 1961, der Abbruch war also in der Nacht zum 4. Oktober erfolgt. Ratten und anderes Ungeziefer! Er hatte sich nicht erinnert, dass die Aktion tatsächlich so begründet worden war.
Im Großen Konferenzraum im Dachgeschoss des Neuen Baus zieht Kriminalrat Englin das Mikrofon zu sich her, klopft dagegen, obwohl er eigentlich wissen müsste, dass es eingeschaltet ist, denn die Kriminalkommissarin Tamar Wegenast hat soeben vorgetragen, was den Mitarbeitern der in den letzten 20 Minuten zusammengetrommelten Sonderkommission Lauternbürg über den gewaltsamen Tod des Hollerbach Eugen bisher an Informationen mitzuteilen ist.
Der Polizeiapparat ist bürokratisch, viel zu hierarchisch, von Empfindlichkeiten, menschlichen Unzulänglichkeiten und entsetzlich vielen Eitelkeiten gebeutelt, anfällig für Intrigen und Mobbing aller Art. Aber manchmal, denkt Tamar, funktioniert dieser Apparat überraschend ruhig und professionell. Kaum dass Kovacz das Obduktionsergebnis durchgegeben hat, läuft der Apparat an, lautlos, fast geschmeidig, aufmerksam und gelassen machen sich die Kollegen an die Arbeit, dabei sind es allesamt Frauen und Männer, die schon genug Überstunden angesammelt haben und von denen niemand darauf gewartet hat, dass der Tag ihm auch noch einen Mordfall ins Haus weht. Und nicht einmal Tamar fuchst sich darüber, dass Kriminalrat Englin nun selbst die Leitung der Soko Lauternbürg übernommen hat, denn das Dezernat I – Kapitalverbrechen – wird wohl erst im neuen Jahr einen Nachfolger für den vor einiger Zeit pensionierten Chef bekommen.
»Ich bitte Sie«, sagt Englin, »diesen Fall außerordentlich ernst zu nehmen …«
Schon ist Tamar der Anflug von staatstragendem Stolz auf die Kollegen wieder vergangen. Außerordentlich ist ein saublödes Wort, erst recht, wenn es außer-ordentlich ausgesprochen wird. Glaubt Englin vielleicht, die Kollegen hätten sich just for fun zur Soko einteilen lassen, oder aus Wunderfitz, wie die Ringspiel Waltraud sagen würde? Natürlich lässt sich zu den Szenen in Hollerbachs Waschküche nur schlecht die Schicksalsmelodie einspielen. Aber an einem Leben, das durch einen Handkantenschlag beendet wurde, ist überhaupt nichts mehr lächerlich, und auch nichts an den drei Dutzend Dorfschönen, die sich für ihren Liebsten in der Waschküche haben ablichten lassen. Überhaupt nicht komisch ist das, wenn man drei Dutzend verbiesterter Zeuginnen nach Aktfotos befragen muss, und das nicht irgendwo in der Großstadt, wo die jungen Frauen lachen und sagen, sicher doch, sind auch ganz hübsch geworden, finden Sie nicht? Nein, die dummen Hühner sind aus dem Dorf hinter den Lutherischen Bergen, wo es womöglich noch zählt, ob eine Jungfrau ist oder nicht, und wo ein Foto von einer Frau ohne was drüber ganz schnell für einen bösen kleinen Rufmord gut ist, und vielleicht auch für einen richtigen.
»Vor allem in der Angelegenheit dieser Fotografien«, hört sie Englin reden, »müssen wir mit äußerster Behutsamkeit vorgehen, mit Diskretion, um nicht zu sagen: mit Delikatesse. Die in Betracht kommenden Zeuginnen dürfen auf keinen Fall in ihren privaten Beziehungen beeinträchtigt oder verstört werden … Ich bin sehr froh, dass die Kollegin Wegenast diesen Bereich übernehmen wird.«
Tamar nickt. Höflich. Zurückhaltend. Diskretion ist die Seele vom Geschäft. Oder Delikatesse, wie Englin neuerdings sagt. Aber was tut Hollerbach, oder was hat er getan, wenn einer kam und sagte, du Eugen, die Sylvie, das Miststück, die Hur’, die hat sich doch auch bei dir ihren Arsch fotografieren lassen, ich geb dir einen Tausender, wenn du mir einen Abzug machst …
Einem Tausender zum Beispiel wird Hollerbach nicht so leicht widerstanden haben, keiner wird das tun, der auf die Mitarbeiterhonorare des »Tagblatts« angewiesen ist. Wenn es
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