Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Hund des Propheten: Roman (German Edition)

Der Hund des Propheten: Roman (German Edition)

Titel: Der Hund des Propheten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
Vom Netzwerk:
Kriminalpolizei gekommen. Der Prophet war damals noch nicht lange da, vielleicht einige Monate. Er erinnert sich, wie sie beide zum ersten Mal gemeinsam zur Kantine gingen, Seiffert voran, weil sich Berndorf noch nicht so recht auskannte, und wie Seiffert vor seiner Kohlroulade die Hände faltete und ein Tischgebet sprach und sich nicht daran störte, dass Berndorf nichts dergleichen tat, sondern nur wartete, vor seinen Spiegeleiern mit Spinat, bis Seiffert fertig war. Und wie sie sich danach über den Mord an einem Antiquitätenhändler unterhielten, dem die Augen ausgedrückt worden waren, und Berndorf ein Problem hatte mit seinen Spiegeleiern…
    »Sie werden sich noch daran gewöhnen«, hatte Seiffert gesagt, »aber beeilen Sie sich nicht damit.«
    Felix hat unter dem Tisch Platz genommen, Berndorf schlägt den Band der ersten Jahreshälfte 1961 auf. Merkwürdig fremd mutet ihn das an, die Typografie ist veraltet, noch vergilbter als das Zeitungspapier. Es dauert, bis die verblassten Geschehnisse des Jahres 1961 Kontur und Farbe annehmen. Überrascht stellt er fest, dass diese Konturen nicht übereinstimmen mit seiner eigenen Erinnerung. Denn aus den klein gesetzten Schlagzeilen steigt ihm ein eigentümlicher, kalter, bedrohlicher Geruch in die Nase, von dem er nichts mehr weiß, denn für ihn ist die Erinnerung an das Jahr 1961 warm und sonnig überstrahlt. Und doch wehmütig. Aber vierzig Jahre später tut die Erinnerung an eine unglückliche, an eine ungelungene Liebe nicht mehr so besonders weh, es ist ein verklingendes, verschleiertes Gefühl. Es hat nicht sollen sein, vielleicht war alles auch gar nicht wahr, sondern nur ein trauriger kleiner Film, aus den Schnipseln und Standfotos einer trügerischen Erinnerung zusammengeschnitten.
    Aber mit dem Geruch, der ihm in die Nase steigt, hat das alles nichts zu tun. Es ist der Geruch nach Krieg, der diesen Zeitungsseiten aus dem Jahre 1961 entströmt. Hat er das damals nicht wahrgenommen? Russen, Amerikaner, Franzosen zünden ihre neuen Atombomben, Dag Hammarskjöld bekommt posthum den Friedensnobelpreis, nachdem er abgestürzt ist auf dem Flug nach Katanga zu Moise Tschombe…, immer noch oder schon wieder ist Krieg da unten, denkt Berndorf, auch der UN-Generalsekretär ist nicht einfach so abgestürzt, er ist abgestürzt worden, waren es die Belgier oder doch die CIA, die ihn haben umbringen lassen, hat ihn das nicht empört damals?
    Im Juli allein sind es 30 444 Flüchtlinge, die der DDR davonlaufen, jeden Tag tausend Ossis, die mit den Füßen abstimmen, nur hat sie damals noch niemand Ossis genannt, aber wieso hat niemand im Westen gesagt, dass das so nicht weitergehen kann? Brandt ist in Washington, und dort wird ihm gesagt, dass sich am Berlin-Status nichts ändern wird, also hat Willy Bescheid gewusst, sonst hätte er nicht gefragt. Kurt Hoffmann bringt Dürrenmatts »Ehen des Herrn Mississippi« ins Kino, Berndorf weiß noch gut, wie er den Film sieht, in dem kleinen Programmkino im ersten Stock, das heißt, er weiß noch, dass das Mädchen von damals neben ihm sitzt und sich auch anfassen lässt, aber nach dem Kino sagt sie, dass Schluss ist, sie bummeln über den herbstlichen Schlossplatz, Berndorf hält ihren Arm in dem seinen, und plötzlich bleibt sie stehen, das Gesicht halb abgewandt, und sagt, dass es nichts wird mit ihnen.
    Das Lautertal und Lauternbürg finden im »Tagblatt« von 1961 so gut wie nicht statt. Pfingstturnier des TSV, dritter Platz gegen Gauggenried, dann zwei Wochen lang nichts. Der Hegering teilt mit, dass ein tollwütiger Fuchs geschossen worden ist, die evangelische Kirche bekommt eine neue Orgel, der Anlass ist sogar ein Foto wert, verschwommen ein Mensch im Talar und ein zweiter in einem zu engen Anzug: Pfarrer Wilhelm Hartlaub übergibt sinnbildlich das neue Instrument dem Organisten Ludwig Wehleitner. Die Freiwillige Feuerwehr soll ein neues Gerätehaus bekommen, auch werden angehoben die Gebühren für Gemeindestier und -eber.
    Unterm Tisch im Kabuff des »Tagblatts« schnauft Felix auf und legt sich umständlich auf die andere Seite. Was tu ich hier, Seite um Seite umblätternd? Berndorf ist schon beim Band für die zweite Jahreshälfte 1961, die Mauer ist gebaut, die Oberliga startet in die neue Spielzeit, war das nicht ihre letzte? Die Staatspartei hält im »Adler« eine Wahlveranstaltung ab, die Sowjets haben die Mauer nur gebaut, um dem Frahm an die Macht zu helfen, weshalb man in Lauternbürg jetzt erst recht

Weitere Kostenlose Bücher