Der Hypnosearzt
Dieser Koffer hier leistete es sich, konservativ zu bleiben. Außerdem hatte er nicht fünf, nein, gleich sieben Zahlenräder am Schloß. Der Eigentümer mußte ein gutes Gedächtnis haben oder sich die Nummer notieren.
»Die Sache stinkt doch zum Himmel!« hatte Christa gestern nacht gesagt. »Die Papiere lagen überall in diesem Auto herum? Aber auch wenn es dunkel war, du hattest deine Lampe, du mußt doch etwas gelesen, etwas gesehen haben? Irgendeinen Schimmer, um was es sich bei den Papieren handelt, mußt du doch mitgekriegt haben?«
Mußte er das? Er hatte anderes zu tun gehabt, als irgendwelche Papierchen zu lesen. Außerdem war alles in einer fremden Sprache abgefaßt. Sollte er auch noch übersetzen, mit einer Taschenlampe in der Hand, während draußen die Polizei anrückte?
Welche Fremdsprache war das überhaupt? Die Goldschlösser rückten ihr Geheimnis nicht heraus. Und Stefan selbst hatte sie verschlossen. Oben am Hang hatte er die Unterlagen brav eingesammelt, als stünde er unter Hypnose. Genau besehen hatte er nicht gewußt, was er tat. Nur dieser Lindner, den sie zum Krankenwagen brachten, hatte ihn irgendwie angerührt. »Helfen Sie!« Ja, das war es. Dieses »Helfen Sie! Sie sehen aus wie ein Mensch!«
Wenn es nun mal zum Menschsein gehört, sammelte Stefan Bergmann jeden Kram ein. Mit Vergnügen.
Doch um welche Sprache handelte es sich? Sie war Stefan so fremd wie Chinesisch. Er sprach Englisch, noch besser kannte er sich in Französisch aus, seinem alten Hobby, das er in den letzten zwanzig Jahren bis zum Argot zu beherrschen gelernt hatte. Englisch, italienisch, spanisch, französisch – irgendeine europäische Sprache hätte er sofort erkannt.
Slawisch, dachte Stefan. Klar, russisch vielleicht oder tschechisch, bulgarisch, polnisch. Und auf diesem Gebiet mußt du passen.
Er nahm den Koffer hoch und wog ihn in der Hand.
Erst jetzt entdeckte er die beiden Initialen auf der Vorderseite. Eine Lehmschicht hatte sie verborgen. Stefan rieb sie ab.
T und L, kunstvoll verschnörkelt.
T und L?
Thomas Lindner …
Stefan schob den Luxuskoffer des Bankers in den bescheidenen Schrank, in dem er seine Unterlagen und Akten aufbewahrte, schob die Tür zu und schloß ab. Den Schlüssel steckte er in die Tasche.
Dann kehrte er in die Praxis zurück. Ein Mann, der sich Schlösser aus massivem Gold leistet, ist sowieso nicht dein Fall. Da hat Christa schon recht. Und du hast zu tun. Sieh ins Wartezimmer. Jeder weitere Gedanke an Herrn T.L. ist pure Verschwendung!
Und so ging es auch in den folgenden Tagen.
Marga und Elke, die Laborantinnen, bewegten sich wieder einmal im Laufschritt. Auch Christa und Stefan hatten alle Mühe, über die Runden zu kommen. Irgendwann legte sie ihm wortlos einen Zeitungsausschnitt auf den Tisch und verschwand wieder.
Vor ihm saß ein Patient auf dem Stuhl.
»Entschuldigen Sie einen Augenblick«, bat Stefan.
Der Patient nickte.
›Noch keine Klärung im Fall Lindner‹ lautete die Überschrift. Dann der Text: ›Bei der Aufhellung der Hintergründe des tödlichen Anschlags auf den Fahrer des in Frankfurter Bankkreisen bekannten Anlagebankers Thomas Lindner sind die damit befaßten Polizeistellen nicht weitergekommen. Es war von Anfang an die Vermutung der Polizei, daß das Attentat dem Banker selbst gegolten hat und der Täter sich wegen der durch Nebel behinderten Sichtverhältnisse im Ziel irrte.
Wie wir erfahren konnten, ist Lindner vor allem durch seine internationalen Bankgeschäfte bekannt. Seine Aktivitäten waren bisher in erster Linie auf den Osten ausgerichtet. Seit 1996 jedoch finanziert er umfangreiche Bauprojekte in Südfrankreich.
Ob das Attentat mit diesem geschäftlichen Hintergrund in Verbindung zu bringen ist, bleibt unklar.
Das Sekretariat des Bankers hüllt sich in Schweigen. Auch in der Klinik, in der seine Unfallverletzungen behandelt werden, ist er streng abgeschirmt.‹
Etwas wie Panik schoß in Stefan hoch. Streng abgeschirmt? Wie gut für Lindner … Doch wo lagerten seine Geschäftsgeheimnisse? Dort drüben im Kabuff?
Na großartig!
»Herr Doktor, was mach ich, wenn's mit der Verdauung wieder nicht stimmt?«
Bergmann schrak hoch. Tatsächlich, er hatte über diesem Krimi seinen Patienten vergessen.
»Dann wechseln wir einfach das Medikament, Herr Meyerfeld. Dann haut es wieder hin. Das ist alles halb so schlimm.«
Es war genau das, was Stefan für sich selbst hoffte.
Es war derselbe Mittwoch, kurz nach acht Uhr abends, als der
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