Der Hypnosearzt
Klammern am rechten Unterkiefer gesetzt. Hier war die Wunde bereits so weit abgeheilt, daß ein leichtes Verbandpflaster ausreichte. Und alles in allem war es wie in der Unfallnacht: Weder Verletzungen noch der Schmutz und die Blätter, die an seiner Haut geklebt hatten, konnten etwas daran ändern, daß es sich um ein verdammt gutaussehendes Männergesicht handelte.
Und sein Lächeln! Halb bewußtlos und blutverschmiert, hatte Thomas Lindner es in jener Nacht von irgendwo herbeigezaubert. Nun war es wieder da. »Ist es nicht unglaublich, ist es nicht geradezu phantastisch, Dr. Bergmann?«
»Ja nun …«
»Ja nun? Lachen Sie nicht, Doktor! Sehen Sie, ich habe mir gesagt, ehe du den Dr. Bergmann besuchst, fährst du noch einmal zu dieser verdammten Kurve. Du kannst sie ja sowieso nicht vergessen. Also zeig sie Maria … Maria, das ist meine Frau.«
Bergmann nickte und blickte unwillkürlich zu dem Luxusschlitten hinüber. Die Frau im Fahrersitz erwiderte seinen Blick. Sie saß ganz ruhig da. Sie hatte die Hände auf dem Steuer, sah zu ihm hin und lächelte. Vielleicht wollte sie Lindner in dieser Situation allein lassen, vielleicht wollte sie selbst allein gelassen werden – es war nicht auszumachen.
Endlich ließ Lindner Dr. Bergmanns Hand los. Er drehte sich um und ging zu dem neu eingesetzten Teil der Leitplanke hinüber. Mit der gesunden Hand strich er über das Metall und sah den Hang hinunter.
Bergmann stellte sich neben ihn.
»Da wären wir also wieder zusammen«, hörte er Lindner sagen. »Halten Sie das für so selbstverständlich?«
Bergmann fand keine Antwort, und Lindner sah ihn an. »Nichts ist selbstverständlich, Herr Bergmann. Schon gar nicht, was in dieser Freitagnacht passierte. Das … das war schon … das war schon etwas sehr Besonderes für mich.«
»Kann ich mir denken.«
»Können Sie nicht, Doktor. So was versteht nur der, der es selbst mitgemacht hat … Diese unglaubliche Situation, wenn Ihr Fahrer plötzlich umkippt und der Wagen verrückt spielt, ausbricht, die Leitplanke hier wegreißt und dann einfach fliegt und fliegt … So was dauert endlos, ewig dauert das … Na ja, und dann der Sturz, der Krach. Und dann …« Er wiegte langsam den Kopf hin und her und starrte zu den abgebrochenen Bäumen hinunter.
»Und dann«, fuhr Lindner fort, »diese schreckliche Stille, der Benzingestank, das Warten …«
Bergmann räusperte sich.
»Dann kamen Sie.« Lindner sprach die drei Worte ganz langsam aus und betonte dabei jede einzelne Silbe mit weihevollem Ernst. »Denn das Warten ist das schlimmste … Das ist hundsgemein, dieses Warten …«
»Kann ich mir vorstellen, Herr Lindner.«
Stefan sprach sanft und verständnisvoll, wie man zu einem verwirrten Patienten sprach. Das alles war ihm nicht geheuer, Lindners Art zu reden, sein Pathos, sein Blick. Und dazu diese geradezu überwältigende Herzlichkeit. Bergmann schaltete auf Distanz. Was war mit dem Mann los? Hatte er nicht nur Schrammen und Prellungen, hatte er irgendein psychisches Trauma erlitten?
Ganz langsam drehte Lindner sich ihm zu. Und wieder suchte sein Blick Bergmanns Augen. »Und dann«, flüsterte er, »dann kam diese Lampe im Nebel. Ich sah Ihr Gesicht und wußte: Du bist gerettet …«
»Maibowle? Wieso denn Maibowle? Jetzt, wo es bald Juli wird? Und dann auch noch zu Hammelkoteletts? Ja, hast du sie noch alle, Walter?«
Es roch nach Rosmarin und verbranntem Fleisch. Von der breiten Terrasse der Kunze-Villa aus mit ihren Korbstühlen und Schaukeln ließen sich ein geradezu dramatischer Abendhimmel und die weichen geschwungenen Linien der Hügel oben an der Aussichtsplattform bewundern.
Mit einer langen Gabel stocherte Walter Kunze in der Grillglut herum.
»Stefan hätte die Bowle gemocht«, verteidigte er sich. »Der steht auf so was.«
Christa Bergmann lehnte sich etwas nach vorn und pflückte mit spitzen Fingern eine neue Olive aus der kleinen grünen Schüssel in der Mitte des Tisches. Sie schob sie in den Mund, trank etwas Martini nach und schüttelte den Kopf. Dabei sah sie zu dem schwitzenden Walter Kunze hinüber. »So? Und woher weißt du das?«
»Woher? Weil ich Stefan für den gleichen Romantiker halte, wie ich einer bin.«
»Aha.«
»Es ist dieses dämliche Betriebsfest.« Hella Kunze streckte den Zeigefinger gegen ihren Mann aus. »Das muß man sich mal vorstellen: Ein Betriebsfest vor zehn Jahren hat ihn zum Bowle-Fan gemacht.«
»Wieso?« fragte Christa.
»Wieso? Er wollte mich damit
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