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Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)

Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Liebert
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Tierpsychiatrie, wenn es eine gäbe. Ich frohlockte, weil ich mir bewußt war, dass das, was uns angetan wurde, nur für Philippe ein Drama war. Er wird mich hassen, wenn er zur Besinnung kommt.
    Längst hatte ich das Pärchen hinter mir gelassen und war seltsamerweise wieder dort angelangt, wo ich Minuten zuvor meinen Spaziergang begonnen hatte: auf dem Markt vor der Kirche St. Sulpice. Eine Handvoll Armer, deren Mantelzipfel sich mit dem Schmutz des Bodens vollgesogen hatten, wühlten in den Abfallkörben und suchten nach Gemüseresten.
    Sollte ich ihnen helfen?
    Ich war versucht, mir eine der Elendsgestalten auszugucken und ihr zu suggerieren, ihr Bauch sei prall mit warmen Köstlichkeiten gefüllt. Doch dann dachte ich an meine Mittagsschlemmerei zurück und verwarf den Gedanken als schäbig und anmaßend. Im übrigen war es nicht ganz ungefährlich. Ich beobachtete, wie ein stiernackiger Mann einem anderen rücksichtslos den Ellenbogen in den Leib rammte, als der ebenfalls in dem sichtlich ergiebigen Abfallkorb wühlen wollte.
    »Immer der Reihe nach.«
    »Mörder!«
    Der andere, ein hagerer, krumm gewachsener Mann mit einem blanken Schädel, der ebenso zum Comte wie zum Abbé gepaßt hätte, spuckte aus. Neugierig blieb ich stehen. Ein Wolkenfetzen verdeckte ein Stück des Mondes, die Uhr von St. Sulpice schlug elf. Da drehte sich der Blankschädel um, reckte seinen Arm und schrie dem Kirchturm mit geballter Faust zu: »Wieder ein Tag, an dem du mich vergessen hast, Gott!«
    Der Stiernackige fluchte, wühlte weiter und warf dem Blankschädel plötzlich einen Apfel zu.
    »Idiot! Er hat dich nicht vergessen!« rief er.
    »Mörder!«
    Der Stiernackige zuckte mit den Schultern. Dann drehte er sich um und fixierte mich. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Er zog seine Mütze und ging, die Hand aufhaltend, auf mich zu. Ich zückte meine Geldbörse und entnahm ihr zwei Fünf-Franc-Scheine.
    »Danke. Sie haben ein gutes Herz.«
    Die Stimme des Mannes war auf einmal wohlklingend und höflich. Er machte einen Kratzfuß und winkte dem Blankschädel.
    »Sag nie wieder, Gott habe dich verlassen«, sagte er rauh und hielt seinem Gegenüber den Fünf-Franc-Schein vors Gesicht.
    Ich war wie gebannt. Dieser Stiernackige konnte kein Unmensch sein. Oder zumindest war er kein Unmensch mehr. Meine Neugier war geweckt. Was war mit diesem Mann passiert, der von einem Gossenkumpan als Mörder beschimpft wurde? Ich sollte es nie erfahren. Denn der Stiernackige schien Gedanken lesen zu können. Er habe alles vergessen, rief er mir zu, eins aber wisse er gewiß: Wir Städter seien alle Schauspieler, die einander wechselseitig betrügen und dabei tun, als merkten sie es nicht. »Man geht kalt aneinander vorüber und windet sich in den Straßen durch einen Haufen Leute, denen nichts gleichgültiger ist als ihresgleichen. Ehe man nur eine Erscheinung geFasst hat, ist sie von einem Dutzend anderer verdrängt. Je höflicher man sich grüßt, um so weniger ist man aneinander interessiert. Herz ist nicht nötig und in Paris so unbrauchbar wie eine Lunge unter Wasser. Und sollte einem doch einmal ein Gefühl entschlüpfen, mein Gott, dann verhallt es wie der Ton einer Äolsharfe im Orkan. Am besten wäre es, man könnte für immer die Augen schließen, um das Eigentliche sehen zu lernen.«
    »Sie gehören nicht zu denen«, sagte ich. »Wer sind Sie?«
    »Monsieur, bemühen Sie sich nicht. Ich bin ein Schatten oder eine Schrumpfung. Kein Stein blieb mir und kein Wappen. Und auch nicht der Traum. Ich bin blind in der Zeit, aber erreiche damit endlich mein Zentrum. Bald weiß ich, wer ich bin.«
    Ich war unfähig, etwa zu erwidern. Meine Lippen zitterten, und all meine Gedanken erschienen mir so blaß wie das Mondlicht. Nur eines fühlte ich: Dieser stiernackige Bettler war geistig von der Gosse so weit entfernt wie das Gegröle Betrunkener von Marie-Thérèse` Klavierspiel. Mich erschütterte, was er sagte, das, was er erlebt haben musste, um sich selbst zu vergessen. Seltsamerweise klang dieses Wort in meinem Kopf nach, als suche es wie ein Ton nach einer Melodie, die unvollständig war. Plötzlich kamen mir die fragmentarischen Wörter in den Sinn, die neben dem toten Baron Ludwig in die Scheibe geritzt worden waren. Vergessen, vergessen. Ich vergesse, du vergisst ...
    Uj … tu moub … m …t
    In den nächsten Stunden ging ich alle möglichen Kombinationen durch und kam schließlich zur Überzeugung, dass die Buchstaben „tu moub“ als

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