Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)
„tu m´oublieras“ gelesen werden müssen: Du wirst vergessen.
Ich beschloss, gleich am nächsten Morgen Albert Joffe in der Conciergerie aufzusuchen. Doch daraus wurde nichts, weil ich nicht in meinem Bett aufwachte, sondern in den Samariterarmen der Prostituierten Jeanne. Sie bezeichnete sich als Kurtisane, war aber derb genug, mir, ungeachtet meines damaligen Zustandes, zu offenbaren, sie biete das „sauberste, schönste und gepflegteste Kabinett der Stadt“ feil.
Alles, an was ich mich nach dem Aufwachen erinnerte, war mein Spaziergang durch Saint Germain, der stiernackige Bettler, wie mir plötzlich die Kälte in die Knochen drang und ich zügig die Straßen durchmaß, um bald in meiner Wohnung zu sein. Und nur, weil es mir zur Gewohnheit geworden war, auch größere Strecken zu gehen, passierte es dann: Wenige Schritte hinter dem Théâtre de l´Odéon, wo es rechterhand in die Rue de Médicis geht, ereilte mich der vernichtende Schlag. Ich hatte gerade die Kreuzung passiert, und vor dem Theater herrschte das übliche Chaos, denn die Vorstellung war zu Ende. In schier endlosen Karawanen rasselten Wagen aller Art heran. Der Krach schien die Luft gleichsam zu durchpflügen und war wegen der Nebelluft derart ohrenbetäubend, dass ich nachempfinden konnte, warum sensible Naturen fürchteten, in ihren Ohren würde die Stille nie mehr so vollständig zusammenfließen wie zuvor. Mein Verfolger hatte sich also einen guten Zeitpunkt ausgesucht, als er bei hektischem Gegenverkehr auf meiner Höhe den Wagenschlag aufriss, um mich wie eine Fliege abzuklatschen. Der laute Schlag ging im Klang-Wirrwarr der stampfenden Pferde, krachenden Räder, vor allem aber dem brüllenden Gewäsch und Gelächter der theaterbesoffenen Besucher unter. Da alles mit der Geschwindigkeit eines Insektenstichs geschah und die trüben Laternen in der Nebelluft nur die Äste der kahlen Linden beschienen, blieb das Verbrechen unentdeckt.
Ich hatte augenblicklich das Bewusstsein verloren. Dass ich noch lebe, erscheint mir auch heute noch wie eine Art Irrtum. Der Grund indes ist so einfach wie banal: Da die Droschke von hinten, zudem nicht schnell genug, heranrollte, und der aufgerissene Wagenschlag gepolstert war, erlitt ich nur eine Gehirnerschütterung statt eines Schädelbruchs.
Wie lange ich bäuchlings im Dreck lag, hätte ich nicht sagen können, doch Jeanne meinte, es seien kaum mehr als fünf Minuten gewesen.
»Als ich dich so liegen sah, dachte ich sofort: Der ist nicht mehr. Dein Hinterkopf war wie mit roter Farbe übergossen. Und dort, wo dir der Sand für Mund und Nase zum Bett geworden war, war auch alles voller Blut.«
Kleine Jeanne, schlank, stupsnasig und mit großen Kulleraugen. Eine Kindfrau. Was ihre Geschichte war, welche Dämonen sie in sich trug, ahnte ich nur vage. Jeanne wollte sich ihnen nicht stellen, aber ihre Angst vor Schmutz war neurotisch. Trotzdem verkaufte sie ihren Körper. Tatsächlich musste sie eine Art erste Adresse gewesen sein, denn die Wohnung, die sie sich in der Rue St. Jacques leistete, war teuer eingerichtet: Seidenvorhänge, Parkett, aristokratisches Mobiliar. Goldtöne waren vorherrschend, und alles war so sauber, dass es stets roch wie frisch gelüftet.
Jeanne putzte selbst - wenn sie nicht anschaffte oder Tee trank und Liebesromane las.
Nun scheint ein Widerspruch darin zu liegen, dass eine Frau mit neurotischer Angst vor Schmutz einem im Dreck und Blut liegendem Fremdling hilft. Vor allem in ihrer Hauptarbeitszeit. Und in der Tat, Jeanne verdient alles andere als einen Heiligenschein. In Wahrheit war sie kurz zuvor in eine Hundehinterlassenschaft getreten, und da schien ihr ein bemantelt daliegender Körper richtig, um ihre Schuh daran abzuwischen. Ihr Pech war, dass ihr Gewissen und einer ihrer Kunden sie davon abhielt. Er saß mit seiner Frau in seiner Droschke und war offensichtlich so davon irritiert oder fasziniert, dass Jeanne unschlüssig an meinem Mantelsaum entlang hin und her trippelte, dass er anhalten ließ und fragte, was sie denn da tue und wer ich sei.
Da Jeanne jedoch die Angewohnheit hatte, ihre Kunden mit Vornamen anzusprechen, fand Monsieur Ferdinands Gattin dies höchst impertinent, obwohl sie nach Jeannes Meinung zu den Frauen gehörte, die sich ebenfalls Liebhaber hielten. Monsieur Ferdinands Frau aber machte ihren Mann erst einmal eine Szene und drohte Jeanne, sie anzuzeigen – worauf Ferdinand geistesgegenwärtig sagte: „Mein Schatz, wenn du das tust, wird dich
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