Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)
zusammenbrechen, können wir sie, die Seele, hören.
Mir wurde diese Gnade zuteil.
Ich träumte von Juliette. Sehe sie, wie sie vor ihrem Grab steht und sich die Tränen aus den Augen wischt. Sie sieht schön aus und erinnert an Marie-Thérèse, aber vielleicht liegt es nur daran, dass sie deren Nachthemd trägt. Ich weiß, dass es Sünde ist, aber die Konturen ihres Leibes erregen mich. Da schaut Juliette auf und lächelt. „Du brauchst dich nicht zu genieren“, sagt sie. „Wenn man träumt, ist das eben so.“ Ich wage nicht, sie nach ihrem Tod zu fragen, will sie aber an der Hand fassen. Doch ich kann mich nicht bewegen. „Komm schon“, rufe ich ihr in Gedanken zu. „Ich hab keine Angst vor deiner kalten Hand.“ Juliette aber rührt sich nicht. Ihre Miene wird immer trauriger, es will mir das Herz aus dem Leib reißen. Da werden meine Augen schwächer. Es fällt mir zunehmend schwer, sie zu sehen, dafür aber höre ich sie reden: „Du hast es gut gemeint, ich aber habe deine suggestive Kraft mißbraucht. Warum? Weil mein Ziel damals einzig darin bestand, mir die Jungfernschaft nehmen zu lassen. Hast du nicht gespürt, dass ich mit Ragna gleichziehen wollte? Ja sogar mit dir, dem kleinen Bruder, der es mit einer Baronin trieb? Meine Eitelkeit litt nicht, dass ihr beide diesbezüglich um ein paar Erfahrungen reicher wart, mir etwas voraus hattet. Nun, ich habe diese Dummheit mit dem Leben bezahlt. Aber als ich dank deiner Gabe schmerzlos meinen Körper verließ, nahm ich auch das schlechte Gewissen mit, das ich dir gegenüber hatte. Seitdem warte ich darauf, dass du mir verzeihst.“
Längst bin ich wie erblindet. Juliettes Bekenntnis rührt mich, erfüllt mich aber auch mit Zufriedenheit. Ich überlege, was ich antworten kann, suche nach etwas Schönem und Versöhnlichem. Der Augenblick dehnt sich zum Tag, doch Juliette ist längst fort. Da, wo sie stand, wogt die Leere wie ein aus der Welt geschnittenes Stück Zeit. Juliette ist wieder in ihrem Grab.
Du hast zu lange gewartet, tönt es in mir.
Zu lange, zu lange …
Irgendwer klopfte gegen die Wohnungstür. Zum Sterben schwach blieb ich liegen. Wieder klopfte es. Ich sammelte Kraft, um irgend etwas Beleidigendes zu rufen, doch derjenige hinter der Tür war schneller.
»Petrus! Marie hat Angst vor den Wehen. Komm!«
»Monsieur Bonet?«
»Ja.«
Marie Bonet entband acht Stunden später mittels einer leichten Hypnose völlig schmerzfrei von einem gesunden Knaben. Die Freude der Eltern war unbeschreiblich. Ein Gelage unter einer – es sind bekanntlich Maries Worte - Rotte Sauen schloss sich an. Laut, dröhnend, herzlich. Mir schmerzten die Rippen, so sehr wurde ich gedrückt. Mein Bauch platzte schier ob der Last deftiger Küche, und mein Hirn ersoff im Rotwein.
Ich kotzte aus der fahrenden Kutsche und schlief vierzehn Stunden.
Noch einmal wurde ich geweckt, weil jemand meine Wohnungstür bearbeitete. Diesmal war es Philippe.
»Petrus! Sie hat sich verlobt. Verlobt!«
Kaum erinnere ich mich daran, wie ich die Tür öffnete. Dass ich es tat, davon zeugt das längliche Stück graublauen Kartons mit dem de Carnothschen Wappen und jenem einen schlichten so verhängnisvollen Satz. Der Ordnung wegen sei erwähnt, dass Hippolyte der Bote dieser Hiobsbotschaft war - sein vornehmes Klöpfeln freilich hatte gegen meinen ohnmächtigen Rausch nichts ausrichten können. Darum also Philippe.
Ich war nicht in der Lage zu fühlen, geschweige zu denken. Mein Schädel war ein Gefäß schwappender Schmerzen, mein Leib ein Apparat verzogener Muskelstränge und Höhlungen, in denen Galle und saurer Schleim ihrem Ätzwerk nachgingen. Die Augen geschlossen, nahm ich Philippe vor dem Fenster stehend wahr, sah ihn innerlich, wie er blicklos durch die Scheiben stierte und damit vielleicht eine von den auf den Simsen dösenden Katzen weckte. Ich wartete, ob er etwas sagte, doch ihm kam kein Wort über die Lippen. Seine Aura füllte mein Schlafzimmer mit Dunkelheit, obwohl die Nachmittagssonne durch die Wolken brach und Licht schickte, das einen Moment lang meine Oberlippe kitzelte. Plötzlich legte sich ein Schatten darauf. Philippe hatte sich umgedreht, doch noch immer spürte ich seine Augen nicht.
Dafür begann er zu reden. Ohne Klang, dumpf, eng, wie von Schutt begraben. Was er sagte, verstand ich nicht wirklich, und noch heute grüble ich, ob er einfach nur so dahergeredet hatte oder seine Worte wirklich jenen tieferen Sinn ausdrücken wollten, den er seinem
Weitere Kostenlose Bücher