Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)
verließ. Strafe muss sein, dachte ich, klärte aber den Comte auf, der daraufhin befahl, Madame Rousseau in seinem Wagen nach Hause zu bringen.
Wie es Madame Rousseau danach erging, ist eine eigene Geschichte. Wäre sie nicht so skurril, würde ich sie nicht erzählen. Auf jeden Fall stellt sie, was die Chronologie betrifft, einen Vorgriff dar.
Nun denn – höchstwahrscheinlich wird meine Concierge zu Hause wie betrunken aufs Bett gesunken sein. Möglicherweise gönnte sie sich noch ein Beruhigungsmittel, vielleicht auch fiel sie einfach wie tot in die Kissen. Bestimmt schlief sie wie nie zuvor in ihrem Leben. Am nächsten Morgen sah ich sie, wie sie schnurstracks in die Kirche Saint Etienne-du-Mont eilte. Nach einem Rosenkranz und einem Ave Maria wird sie dort endlich einmal den Opferstock gefüttert haben, denn mit den Armen hatte sie es nie so richtig, weil die, ihrer Meinung nach, alle selbst schuld an ihrem Unglück seien.
Ich begegnete Madame Rousseau anschließend auf der Stiege.
»Sie sehen etwas verschreckt aus, Madame. War der Champagner gestern nicht in Ordnung?«
»Von wegen! Aber diese Alpträume! Kaum weiß ich, wie ich nach Haus gekommen bin. Ich fürchte, ich werde verrückt. Freuen Sie sich nur, Monsieur Cocquéreau! Vielleicht begegnen Sie mir nächste Woche schon in der Salpêtrière, oder ich ziehe in Ihr Häuschen nach Charenton. Aber nach all dem, was Ihnen gestern gelang, da werden Sie sich bestimmt einen Palast kaufen können. Oh, wie ich Sie beneide! Nie habe ich Glück, immer nur die anderen.«
Doch ob Salpêtrière oder Charenton – Madame Rousseau wäre mir dort gar nicht mehr begegnet. Denn sowohl Esquirol als auch Roger Collard wollten mit dieser ominösen Séance nichts zu tun haben. Öffentlich sprachen sie sich gegen derartige Suggestionsexperimente aus und teilten allen namhaften Pariser Redaktionsstuben mit, dass ich mich auf absehbare Zeit ins Privatleben zurückgezogen habe, es daher also zwecklos sei, mich in Charenton oder der Salpêtrière konsultieren zu wollen.
Aber ich will nicht abschweifen.
Zwei Tage später lag Madame Rousseau gegen Mittag im Salon ihres geliebten Schwagers auf der Chaiselongue und war gerade dabei einzuschlafen.
Die Uhr schlug. Die drei hellen Schläge werden kräftig genug gewesen sein, Madames wohligen Dämmerzustand so nachhaltig zu stören, dass sie jene umhersirrende Mücke erlauschte, die das Verhängnis auslöste. Mücken sind im September der unvermeidliche Preis für einen gelüfteten Salon, selbst im Herzen der Stadt. Die Concierge raffte sich auf, das Insekt zu verfolgen.
Womit konnte sie zuschlagen?
Mit der Zeitung natürlich.
Wo befand sich selbige?
Na, neben den Scheiten am Kamin.
Madame Rousseau rollte die Zeitung zusammen und suchte mit glasigen Augen die grüngestreiften Tapeten ab - selbstverständlich ohne Erfolg. Also schlurfte sie zurück zur Chaiselongue.
Die Zeitung rollte auf. Ein bekannter Name. La Belle Fontanon? Comte de Carnoth? Madame Rousseau war auf einmal hellwach. Weitere Namen, darunter der des Psychiaters Petrus Cocquéreau ließen ihre Nerven zittern; es wurde noch schlimmer, als sie sich in jener Witwe wiedererkannte, die ein dutzendmal geblafft hätte: „Was Sie wieder schwatzen! Unerhört!“
Madame Rousseaus Schrei muss überaus schrill gewesen sein. Zusätzlich wurde sie noch von der Mücke in die Wange gestochen. Dieser plötzliche Schmerz, häßlich und bösartig, gab ihr den Rest. Im wahrsten Sinn des Wortes aufgestachelt stürzte sie die Treppe zum Schlafzimmer ihrer Schwester und ihres Schwagers hoch. Irgendwo in der Mitte strauchelte sie, brach sich dabei den Kiefer und verlor nicht nur die oberen Schneidezähne, sondern auch ein Stück ihrer lästerlichen Zunge.
Die monatelange flüssige Nahrung entkräftete sie. Madame wurde bettlägerig. Da nuschelnd sich zu unterhalten oder gar zu reden ihre Sache nicht war, ergab sich für mich die glückliche Konsequenz, dass Madame Rousseaus Schwester und der geliebte Schwager nie die wahren Zusammenhänge erfuhren, die zu dieser Katastrophe geführt hatten. Am Tag schließlich, als Comte de Carnoth den letzten Atemzug tat, segnete auch Madame Rousseau das Zeitliche. Sie erlag auf der Chaiselongue ihres geliebten Schwagers einer Erkältung. Ob sie in den Händen die Zeitung mit der Schlagzeile hielt – ich weiß es nicht, aber könnte es mir gut vorstellen. Denn Madames letztes Antlitz soll ein grimmiges Lächeln gezeigt haben.
Ich dagegen
Weitere Kostenlose Bücher