Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)
Kindergeschrei, Räderrollen, Peitschenknallen, Uhrenschlagen, Pferdegetrappel, Glöckchenbimmeln und Laubrascheln erfüllte die Luft. Dabei waren die Straßen gefährliche Fußgängerfallen. Schnell konnte man von einer Kutsche erFasst und aufs Pflaster geschleudert werden. Jeder Pariser Hasste die rasenden Adelsvehikel, deren Kutscher „Platz da!“ riefen und Peitschen durch die Luft sausen ließen. Der Blutzoll der Pariser Straßen war einzigartig in der Welt. Die Gefahr, lebendig gerädert zu werden, war so hoch, dass etliche Anwälte allein davon lebten, Entschädigungen für zerquetschte und abgetrennte Gliedmaßen einzuklagen. Etliche Krüppel und Beinamputierte, die auf den Straßen herumlungerten, waren damals nicht Opfer von Feldzügen, sondern Verkehrsunfällen.
Gegen halb vier am Nachmittag war es wieder soweit: Auf dem Quai des Tuileries zündete sich ein gut gekleideter Mann auf der Mitte der Fahrbahn eine Pfeife an, als von der Place de la Révolution ein Zweispänner um die Kurve schoß. Nur das Trappeln der Pferde und Mahlen der Räder war zu hören. Mir blieb das Herz stehen, die Menschen schrien. Tot! dachte ich nur, als der Mann zwischen den Pferdeleibern verschwand und Sekunden später auf der Seite liegend wieder hinter der Kalesche zum Vorschein kam.
Ich war der erste, der neben dem Opfer kniete. Es war ein Wunder, der Mann lebte. Er stöhnte leise, schien auf den ersten Blick fast unverletzt. Er hatte das unglaubliche Glück gehabt, der Länge nach zwischen die Pferde geschleudert worden zu sein, derart, dass die Kalesche über ihn hinweggerollt war, statt ihn mit den Rädern zu zermalmen.
»Ganz ruhig, es ist so gut wie nichts passiert.«
Die Hand des Mannes blutete, die Haut war stark aufgeschürft. Bevor ich sie auf einen Bruch untersuchen konnte, galt es, den Kopf des Mannes anzuheben und auf meinen Gehrock zu betten. Er drehte mir das Gesicht zu – ich kannte den Mann!
»Du, Ludwig?«
Der Überfahrene, mein alter Jugendfreund Baron Ludwig Oberkirch, blinzelte. Darauf lächelte er und fiel in Ohnmacht – zur selben Zeit, wie in Charenton die kleine Esther ihren letzten Atemzug tat.
7.
Bei Gott, Marie-Thérèse war schön! Am Arm Baron Ludwig Oberkirchs schwebte sie langsam auf mich zu, um sich für meine Hilfe nach dem Tuilerien-Unfall zu bedanken. Ich fühlte, wie ihre wunderbar melodische Stimme mein Inneres zum Leuchten brachte. Aber da war noch mehr, etwas, das mich seltsam irritierte - Marie-Thérèse war mir nicht fremd, sondern auf eine geheimnisvolle Art vertraut. Und so hätte ich sie, als sie meine Hand ergriff, am liebsten an mich gezogen und ihr wie einer guten Freundin die Wangen geküßt. Kurze Zeit später dann wurde mir bewußt, dass es nicht nur ihr Lächeln war, das mich berauschte. Denn trotz ihrer hoheitlich-anmutigen Haltung besaß Marie-Thérèse eine erotische Ausstrahlung, die dem Lockruf einer Kurtisane glich.
»Nur zu, Petrus, du bist nicht der erste, dem sie auf diese Art ihr Händchen hält. Natürlich weiß sie längst von mir, dass du zu den guten Menschen dieser Welt gehörst, obwohl du mir einmal mit dem Dreschflegel hinterhergerannt bist. Auch damals landete ich im Dreck. Zum Glück war deine Wut in diesem Moment verraucht, und du hast mich zu meiner Mutter begleitet und ihr gestanden, dass meine zerrissene Hose Schuld deiner Verfolgung sei.«
Baron Ludwig war ein blonder Krauskopf mit blauen Augen und sanften Gesichtszügen. Gleichmütig sah er zu, wie Marie-Thérèse mit beiden Händen meine Rechte umFasste und sie zwischen ihren Handflächen drückte. Sie tat, als wolle sie Gewicht und Festigkeit prüfen, und ja, es ging ihr tatsächlich im wahrsten Sinne des Wortes darum, begreifen zu wollen, wer ihr da gegenüberstand. Mir war es nur angenehm, im übrigen ist man als Psychiater eh einiges gewöhnt. So ungewöhnlich Marie-Thérèses Prozedur auch war, ich empfand sie nicht befremdlich. Viel seltsamer erschienen mir ihre großen dunklen Augen: Mir kam es vor, als sähen sie gleichzeitig durch mich hindurch, mir aber auch in die Seele. Dann wieder war es, als fehle der Blick, jedenfalls schien er weder fest noch weich, noch kalt oder warm.
»Menschen, die schlecht sehen, kompensieren durch Fühlen und Hören«, klärte Marie-Thérèse mich auf. »Aber um ehrlich zu sein, ich sehe nicht schlecht, ich sehe miserabel. Wenn es hell ist, muss ich mich mit Schemen begnügen, und sobald es dämmert, zerfließen auch diese Schemen zu diffusen,
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