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Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)

Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Liebert
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offener Straße verhaftet und drei Tage inhaftiert wurde. Dank der Freundschaft des Comte de Carnoth zu Daniel Roland ordnete dieser an, mich in die Conciergerie zu überführen. Nach einer unter fürchterlichsten Gewissensbissen verbrachten Nacht in einer der Einzelzellen, konfrontierte Daniel Roland Monsieur Soulé und mich am nächsten Tag mit dem Protokoll des Polizeikommissars – was mir die Freilassung brachte und Monsieur Soulé einen schweren Nervenzusammenbruch.
    Was nun hatte Sébastien mit „eigenhändig“ gemeint?
    Es kam heraus, dass Monsieur Soulé seinem Sohn auf die derbe Tour gekommen war, ungefähr nach der Art: Was dieser Psychiater aus dem Hospiz an Therapie machen will, das können wir vorab ja schon einmal ein bisschen üben. Ohne Erbarmen wurde die kleine Esther Sébastien auf den Schoß gesetzt – zuvor hatte der Vater ihm die Verbände von den Armen gewickelt. Daraufhin griff Monsieur Soulé nach Esthers feucht-warmen Säuglingshänden und legte sie auf Sébastiens schorfig-eitrige Arme: „Gib zu“, sagte er, „dies fühlt sich wunderbar an! Ist es nicht schön? Und wie dein Schwesterchen dabei lacht! Wie sie es genießt, dich lieb haben zu dürfen!“ Vater Soulé patschelte mit Esthers Händchen Sébastiens Arme, streichelte sie mit deren Handrücken und entblödete sich nicht, Sébastien anzufahren, er solle im Gegenzug seiner Schwester zeigen, dass auch er sie liebe.
    War Sébastien anfangs nur gelähmt vor Scheu und Widerwillen, wich seine starre gefühllose Haltung bösem Murren, als Esther zu greinen begann. Er kniff sie, was Esthers Patsche-Händchen erst zu Patsche-Krallen und dann zu Fäusten machte, die auf Sébastiens Armen herumtrommelten. Auf beiden Seiten flossen Tränen, Vater Soulé aber lachte nur und meinte, das müssten sie beide ertragen.
    Ob er dazu Stellung nehmen wolle? hatte Daniel Roland Monsieur Soulé abschließend gefragt.
    Der arme Mann hatte den Kopf geschüttelt und war dann weinend zusammengebrochen. Ich selbst schwankte zwischen Wut und Mitleid, schließlich siegte letzteres. Doch als ich dem Bürgermeister meine Anteilnahme zeigen wollte, zuckte der wie vom Blitz getroffen zusammen und begann so gräßlich zu stöhnen und zu zittern, dass ich die Fassung verlor. Als wäre ich selbst verrückt geworden, floh ich aus der Conciergerie und flüchtete mich tagelang in Unmengen von Rotwein, was in Charenton als der offizielle Vorwand angesehen wurde, mir zu kündigen.
    Prior de Coulmier meinte übrigens, eigentlich habe er es von Anfang an geahnt: Das Hospiz sei nicht der rechte Ort für einen Elsässer, der bei den Irren beliebter wäre als die Kirche und selbst die Barmherzigen Brüder. Ich hatte mich schwer beherrschen müssen, den selbstsicheren Birnenschädel des Priors nicht mit der Flasche zu zertrümmern.
    Alles in allem – welch Glück für Roger Collard! Meine Entlassung befreite ihn von dem Alptraum, gekündigt zu werden. Wovon er allerdings nicht mehr viel hatte. Drei Jahre später vergiftete er sich mit einer Magnum-Flasche Calvados. Jean Etienne Dominique Esquirol nahm seine Stelle ein und machte aus Charenton ein Hospiz mit Weltgeltung. Die kürzlich, am 30. Juni 1838 erschienene, auf seinen Arbeiten beruhende staatliche Irrengesetzgebung hat festgelegt, dass geistesgestörte Menschen ab sofort unter besonderem Schutz des Staates stehen und entsprechende Fürsorge zu erwarten haben. Im Oktober erfolgt in Charenton die Grundsteinlegung für ein neues Hospiz: eine halbmondförmige symmetrische Anlage, hell und licht.
    Ich werde zugegen sein.
    Zurück in den Salon Baron Ludwig Oberkirchs. Die Stille, die nach Marie-Thérèses tönendem Porträt eingetreten war, quälte mich. Spiel weiter! rief ich Marie-Thérèse in Gedanken zu, doch sie hatte die Hände in den Schoß gelegt und ließ mich erleben, wie lange es dauern konnte, bis ein Lächeln wirklich erloschen war. Ludwig dagegen heftete seinen Blick mit verblüffender Sturheit auf den Teppich, wirkte angeschlagen, bar jeglichen Frohsinns. Schließlich riss er sich zusammen, räusperte sich und streute die alte jüdische Weisheit in den Salon, dass niemand klüger als sein Schicksal sein könne.
    »Was wissen wir schon, was uns erwartet. Andere wären vor den Tuilerien zu Tode gekommen, ich hatte Glück. Daraus jetzt abzuleiten, dies sei mein ganz besonderes Schicksal, wäre töricht. Schon nächste Woche kann ich wieder unter eine Kutsche kommen und zum Krüppel werden. Dann freilich wird man

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