Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)
sagen: Oh, der Unfall vor den Tuilerien war ein Omen. Ein Wink des Fatums, eine Warnung und so weiter. Aber das ist Unsinn - beziehungsweise die Hoffnung, dass alles irgendwie einen Sinn haben muss.«
Ludwig klang depressiv. Seine blauen Augen waren stumpf geworden und seine Wangen erschlafft. Er war kaum wiederzuerkennen. Die hilflose Art, wie er die Finger in den Fäusten versteckte, machte ihn zu einem Kind. Marie-Thérèse indes sah auf einmal besorgt aus. Sie schaute zu Ludwig und warf ihm einen flehenden Blick zu.
Ein perlender Lauf über die gesamte Klaviatur brachte neues Leben in den Salon, und die im Diskant geklimperte Melodie von „Ah, vous dirai-je, Maman …“ hellte unsere trübe Laune auf. In Wien, erzählte Marie-Thérèse, sängen die Kinder auf diese Melodie: Morgen kommt Sankt Nikolaus. Die Variationen, die Mozart darüber komponierte, gehörten zu ihren sicheren Erfolgsstücken und seien eine häufig gewünschte Zugabe.
»Eben suggestive Musik«, kommentierte ich.
»Das ist mir zu abgehoben«, hielt Marie-Thérèse mir entgegen. »Die Melodie ist ein Ohrwurm, mehr nicht. Mozarts Variationen sind eine liebenswürdige Spielerei. Sie machen lächeln und fesseln die Aufmerksamkeit, aber ob sie den Hörer wirklich in einem höheren Sinn ver-rücken bezweifle ich.«
»Wenn ich schwöre, dass mich Ihr musikalisches Porträt ver-rückt hat, Marie-Thérèse …«
» … nehme ich das mit Eifersucht zur Kenntnis«, fiel mir Ludwig Oberkirch mit gespielter Strenge ins Wort.
Marie-Thérèse lachte hell auf und fuhr Ludwig liebevoll durchs Haar. Er küsste ihr den Scheitel und zog sie kurz an sich, dann klingelte er nach dem Mädchen und trug ihr auf, Champagner und Gläser zu bringen. Der Herr Bruder müsse jeden Augenblick kommen, dann würde man auf das Wiedersehen anstoßen. Freimütig begann Ludwig davon zu plaudern, dass sein Bruder und er für ihre Pariser Wohnungen etliches Land verkauft hätten. Zum Glück seien die Besitzungen noch ausreichend groß, dazu die guten Böden, alles eben einfach ein Gottesgeschenk.
Ich war im Bilde. Die Ländereien der Oberkirchs um das elsässischen Ehnheim waren viel wert, weil sie viel abwarfen. Ein Morgen brachte zweihundert Pfund Getreideüberschuß, das Doppelte, was andere Güter in Frankreich erwirtschafteten.
»Der dicke Albert, euren Verwalter, gibt´s den noch?«
»Ja. Jetzt freilich ist er eher schlank. Ich erinnere mich, wie er mir einmal eine Ohrfeige verpaßt hat, als ich mit dreckigen Stiefeln auf einem Kornsack herumtrampelte. Philippe und ich hatten uns mal wieder wegen unserer Zwillingsbrüderschaft geprügelt. Ich bin ja der Zweitgeborene, aber damals behauptete ich standhaft, ich sei der Erstgeborene. Die beste Lappalie, um Streit anzufangen. Da Philipp aber der Stärkere war, zog ich den Kürzeren und meinte, auf einem Kornsack Dampf ablassen zu müssen. Unser braver dicker Albert sah´s, langte hin und hielt mir dann eine Predigt. ‚Ludwig‘, begann er tadelnd, ‚du trampelst mir nie mehr auf der Zivilisation herum.‘ Ich begriff kein Wort, aber das war ja Absicht. Und dann lernte ich, dass ein Saatkorn mindestens fünf Erntekörner erbringen muss, damit der Mensch Kopf und Hände auch für anderes einsetzen kann. Fünf Körner, lernte ich, sind der Mindestüberschuß. Erst dann kann ein wirklich nennenswerter Teil der Bevölkerung von der Notwendigkeit, Nahrungsmittel zu erzeugen, freigestellt werden und anderen Tätigkeiten nachgehen. Im Mittelalter lag das Verhältnis meist nur bei eins zu drei, auf unseren Ländereien heute bei eins zu zehn. Ich war beeindruckt, nein mehr noch, ich habe begriffen. Seitdem achte ich die Arbeit des Landmannes und leite deswegen auch unser Gut.«
»Dein Zwillingsbruder lässt dir freie Hand?«
»Ja. Solange die Apanage stimmt, redet er mir nicht hinein. Gemeinsam ist uns beiden nur unsere Sammelleidenschaft.«
»Tatsächlich?«
»Ja, das stimmt, Petrus« sagte Marie-Thérèse. »Ludwig hält sich dabei, Sie sehen ja, wie geschickt er es anstellt, an die Damen, selbst wenn sie so gut wie blind sind. Philippe dagegen liebt anscheinend all das, was die bildende Kunst so zu bieten hat. Ludwig meint, sein Salon in der Rue de Vaugirard gleiche einer Galerie.«
In unser Lachen mischte sich das fröhliche Rufen Philippes. Ich umarmte ihn genauso herzlich wie Ludwig und vermochte im ersten Moment nicht zu entscheiden, wer mir von beiden sympathischer war. In der Tat war Philippe kräftiger als sein
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