Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)
hinzuzufügen. Aber eigentlich trieben mich keine lukullische Genüsse. Die Lust auf derartige Expeditionen war in letzter Zeit gering geworden, an diesem Tag war ich nachgerade appetitlos.
Absichtlich trug ich einen Sommerrock und bekam nach zehn Minuten die Quittung: kalte Füße, Frösteln. Mir fiel nichts anderes ein, als auf den November zu schimpfen, der dieses Jahr so launisch war wie der April: An Allerseelen, als ich mit dem Comte Cognac getrunken hatte, war es Winter, als ich kurz darauf wieder zum Dienst in Charenton erschien, hatte sich eine Altweibersommerwoche angeschlossen, nun gefiel es meinem Namensvetter im Himmel, die Stadt mit einem Teppich kalter Nebelluft zuzudecken.
Zu allem ÜberFluss kam auch noch Wind auf.
Der Invalide, der an der Ecke des Quai des Augustins unter einer Laterne hockte, wickelte sich enger in seine beiden Decken, die ihn und seinen Hund wärmten. Musste er tatsächlich die Nacht im Freien verbringen? Er erinnerte mich daran, dass ich ohne Stellung war, und so fragte ich mich nicht von ungefähr: Wann wohl waren die Ersparnisse dieses Bettlers aufgezehrt gewesen? Vor einer Woche? Einem Monat? Einem Jahr? Wann würden meine ausgegeben sein? Ich warf ihm ein paar Sous in seinen Hut und sagte im Vorbeigehen, die Hälfte davon sei für den Hund.
»Vergelt‘s Gott! Ich bete, dass Sie nie gebissen werden!« rief mir der Mann hinterher.
Etwas zu erwidern, kam mir nicht in den Sinn, dafür aber die Gewißheit, dass jetzt die Stunde gekommen war, sich ein Mädchen leisten zu müssen. Ich beschleunigte meine Schritte, kam auf die Place du Châtelet mit Napoléons Siegessäule. Laub auf dem Pflaster dämpfte den Hufschlag, verschluckte den Klang meiner Absätze. Merkwürdig nur: Bäume standen hier gar keine! Wo kam das Laub her?
Zwei berittene Gendarmen eilten um die Ecke und nötigten mich unter die nächste Laterne. Misstrauisch und hoch zu Roß musterte sie mich, waren aber zu bequem, die Zügel loszulassen und den hingestreckten Ausweis zu überprüfen.
»Ihre Augen sind die eines Spitzbuben, Monsieur.«
»Die Augen oder die Blicke?«
»Beides. Sie könnten immerhin zur Bruderschaft gehören.«
»Zur Carbonaria?«
»Was Sie natürlich bestreiten. Bloß, warum schauen Sie dann so verwegen?«
»Und wenn sich dahinter ein weiches Herz verbirgt?«
Die Gendarmen trabten weiter, ich aber spuckte hinter ihnen aus, was damals zum guten Ton der Intelligenz gehörte. Die Pariser Polizei stand im Ruf, sich bedingungslos hinter Ministerpräsident de Villèle gestellt zu haben, und der war bekanntlich dermaßen monarchistisch, dass die Gefahr bestand, in absolutistische Zeiten zurückzufallen. Als Gegner der 1814 verkündeten liberalen Verfassung führte er in diesen Monaten anstelle unseres schmerbäuchigen und freßwütigen Ludwig XVIII. die Regierungsarbeit. Bezeichnenderweise war eine seiner ersten Amtshandlungen, die Pressefreiheit zu widerrufen und den demokratisch gesinnten Professoren Vorlesungsverbot an den Universitäten zu erteilen.
Bislang hatte ich mir stets eingebildet, unpolitisch zu sein, doch als Villèle am einundzwanzigsten September die vier Unteroffiziere des Komplotts von La Rochelle auf der Place de Grève hinrichten ließ, empörte mich diese Überreaktion derart, dass ich endgültig ins Lager der Bourbonen-Verächter wechselte – mithin mache ich kein Geheimnis daraus, damals, wie viele andere liberale Landsleute auch, mit den Zielen der „Carbonaria“ sympathisiert zu haben. Gewiß, sie hatten in den letzen beiden Jahren etliche revolutionäre Aufstände auf dem Gewissen, aber war das ein Wunder? Die Bourbonen verhöhnten schließlich die Volkssouveränität und knechteten die Bürgerrechte. Ich finde, es spricht für sich, dass die Carbonaria ein Geheimbund war, dessen Mitglieder sich auch aus den besseren Ständen rekrutierten: Industrielle, hohe Militärs und Ärzte gehörten ihm genauso an wie Advokaten, Professoren, Geschäftsleute, Studenten und Handwerker. Allesamt waren sie Gegner der Absolutisten und brannten darauf, endlich eine Verfassunggebende Nationalversammlung einzuberufen, um das Volk entscheiden zu lassen, welche Regierungsform es wünschte.
Andererseits, die Methoden der Carbonaria … Hélène, die Tochter des Comtes, war eines ihrer unschuldigen Opfer. Und was die Bruderschaft im Grunde scheitern ließ, lag genau an dieser Art von hitzköpfiger Gewalt einzelner Zellen. Denn die militärischen Köpfe, mehr Idealisten als
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