Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)
morgen sterben werden – aber sie tun, als wären wir mit zehn gestorben.«
Selbst Madame seufzte. Bis auf Claire weinten alle Mädchen, doch das gab sich schnell, als ich ihr vorschlug, sie solle sich vorstellen, sie habe ihr Gedächtnis verloren.
»Nein, mehr noch, Claire, es gibt keine Vergangenheit und keine Zukunft, alles ist nur Gegenwart. Wenn du etwas tust, ist es gleich hinterher wieder vergessen. Du musst ein Buch führen und aufschreiben, was du getan hast, musst nachschlagen, wo du wohnst, wo du einkaufst, wer deine Freunde sind, wo du arbeitest. Es gibt nur das Jetzt, alles ist unwichtig, du hast keine Angst mehr, keine Sorgen. Heute ist so ein Tag, Claire, und du kannst nichts gegen deine Lust tun. Sie ist in dir und du musst sie befriedigen, weil es dich sonst zerreisst. Du gehorchst nur dir, weil du dieses ungeheure Verlangen hast, das keine Abgestumpftheit kennt. Aber zum Glück kannst du endlich deinen Durst löschen. Und zwar jetzt.«
Claire begann zu schluchzen. „Es ist doch alles Betrug“, flüsterte sie und schlug sich ohnmächtig die Hände vor das Gesicht. „Alles ist Ausnutzung, alles verwerflich, böse.“ Am demütigendsten aber sei, dass sie mir anfangs wirklich geglaubt habe, dann aber sei ihr plötzlich, wie aus dem Nichts bewußt geworden, dass alles Lüge sei.
»Es war wie in den Alpträumen, wo man fällt und fällt und dann am Schluß im eigenen Bett aufwacht. Aber das Bett war plötzlich wieder dieser Diwan, der Schwanz ein fremder Schwanz, das Etablissement nicht die Stube daheim und Madame nur Madame. Sie ist eben nicht meine Mutter, und von den Freundinnen hier kenne ich ihre Büchsen besser als ihre Gedanken.«
Claire geriet in Wut und begann auf mich einzuschlagen. Madame erhob sich und schüttelte mitfühlend den Kopf. Erst küsste sie Claire, dann tupfte sie ihr die Tränen ab – dann gab es eine Ohrfeige. Claire eilte aus dem Séparée, die anderen Mädchen folgten ihr. Madame zuckte die Schultern, seufzte und schob mir ein leeres Silbertablett auf den Diwan.
»Seien Sie wenigstens ein bisschen großzügig.«
Dann ließ sie mich allein.
Ich fühlte mich wie betäubt. Mein schlechtes Gewissen meldete sich. Schwankend zog ich mich an. Wenn es wirklich nur die Gegenwart gäbe und man alles aufschreiben müßte, überlegte ich, wie wird sich dann ein Mörder gebärden, wenn er liest, dass er getötet hat?
»Er wird aufschreien vor Entsetzen und sofort wieder vergessen.«
Ich hätte wissen müssen, dass ich mich nach diesem Erlebnis schlechter fühlen würde als zuvor. Sicher, ich hatte Zerstreuung gesucht, und was ich bekam, war Abwechslung und Sex. Doch was hatte ich wirklich gewollt? Was suchte ich eigentlich?
Die Antwort war so einfach, wie schmerzlich: Ich wollte Liebe!
Ich suchte eine Heimstatt für meine Seele, das Himmelslazarett für meine Verwundungen, die Sphärenmusik, die alle bösen Gedanken aufhebt.
Liebe.
Doch stattdessen hatte ich mir nur ein genau vorhersehbares Rausch-Erlebnis gekauft. Es gipfelte in zweieinhalb Höhepunkten, die durch das Zusammenwirken optischer, haptischer und akustischer Reize forciert worden waren. Man zuckt ein bisschen herum, aber mehr ist nicht. Zurück bleibt das Gefühl der Spaltung. Die Lücke aber, die sich zwischen Körper und Seele aufgetan hat, ist leider mehr als ein Nichts. Ich behaupte, sie ist ein giftiger Hauch, in dem sich die Dämonen der Erinnerung suhlen wie eine Rotte Sauen im Dreck.
Was bedeutete dieses Gefühl für mich?
Dass ich erst einmal selbst geheilt werden musste, um auch andere heilen zu können - eine uralte antike Erkenntnis, die mir in den Sinn kam, als ich wieder vor meinem Trumeau versank und mich unversehens wieder im Korridor der dunklen Mächte befand. Diesmal war ich mutiger und ging ein bisschen schneller, dafür jedoch graute mir nur um so mehr vor der Pseudo-Galerie des Palais Royal mit ihrem blutigen Chaos zerfetzter Leiber. Doch wie beim ersten Mal entkam ich unbeschadet dem Grauen. Ich begriff, dass dieser Gedankenraum der Zerstückelung und des Leids mein Inneres widerspiegelte, gleichsam eine Art Manifest meiner Seele darstellte: Empfindungen und Erinnerungen, Gedanken und Gefühle, Gesichter und Gliedmaßen – all dieses, was zusammengehört und den Menschen als Ganzes ausmacht, war bei mir von einander getrennt und abgespalten.
Erkenne dich selbst! dachte ich ohne Überheblichkeit, dafür aber mit um so größerer Erleichterung. Vor dem Arc de Triomphe jedoch
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